Als Spaziergänger vermeidet man die viel befahrene Partie der Nibelungenstraße zwischen Ritterplatz und Guntrum-Galerien heute lieber. Dafür hat man aber mit dem Auto im Stau stehend oft hinreichend Muße, über das vermauerte Tor zu sinnieren, das an der Südseite der Straße zu sehen ist. Es gehört zu einer hochaufragenden Mauer aus Bruchsteinen, die oben mit einem Metallzaun bewehrt ist.
Das sorgfältig profilierte Rundbogentor aus Sandstein wird von drei heute ebenfalls mit Steinen verschlossenen Rundbogenfenstern bekrönt. Über einem Zahnschnittfries sitzt schützend ein mit Ziegeln gedecktes Satteldach. Rechts neben dem ehemaligen Eingang gibt es noch eine Sandsteintafel, aus der die Inschrift entfernt wurde.
Mit Efeu überwuchert
Der aktuell teilweise von Efeu überwucherte Torbau gehört zu dem Anwesen der dahinter oberhalb liegenden Liebfrauenschule und wäre eine tolle Kulisse für eines der Märchen, die von eingemauerten Jungfrauen erzählen. Der ehemalige Adelshof „Oberhof“ wurde von den Englische Fräulein genannten Maria-Ward-Schwestern ab 1870 unter anderem mit der Errichtung eines dreigeschossigen Hauses zu einer Mädchenschule ausgebaut und stetig erweitert.
Als „Neutor“ wurde das denkmalgeschützte Eingangsportal 1911 von dem Bensheimer Architekten Ludwig Keßler gebaut, der auch am Ausbau des Bischöflichen Konviktes (des heutigen Rathauses) beteiligt war und mehrere Villen in Bensheim entworfen hat. Vier Jahre zuvor hatte er schon die weit gespannte Fußgängerbrücke zwischen den Schulräumen und dem Wohnhaus der Schwestern über die Nibelungenstraße geschaffen.
Verkehr als Problem
Der Durchlass war also schon so breit wie heute. Der Verkehr allerdings dürfte nicht zu vergleichen gewesen sein. Zwar stellten auch Kutschen und Fuhrwerke eine damals als Lärm und Gefahr verbundene Belästigung dar, das Verkehrsaufkommen zwischen dem Lautertal und Bensheim war jedoch erheblich geringer.
Während man heute niemals auf die Idee käme, an dieser Stelle einen Schuleingang zu schaffen, war der Verkehr im Jahr 1911 offenbar noch kein Hinderungsgrund, aber auch schon ein Problem: Ein Artikel im Bergsträßer Anzeiger im Jahr 1902 forderte ein Verbot für am Marktplatz durchfahrende Motorwagen – Anlass der Entrüstung war das Scheuen eines Bierkutschen-Pferdes vor dem ihm unbekannten Vehikel. Seit Mitte des Jahres 1900 fuhr ein motorgetriebener Omnibus zwischen den Städten Bensheim und Lindenfels.
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Der private Autobesitz nahm in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts rasant zu, auch in Bensheim. Hier wurde die erste private Autogarage im Kirchbergviertel just im Jahr 1911 erbaut. Die frühen Autobesitzer galten nach Berichten als arrogant und neureich und wurden auf der Straße als dominant empfunden. In einem Leserbrief im Starkenburger Boten vom Oktober 1907 ist die Rede von „Dutzenden von rasenden Automobilen“, die täglich die Landstraße vor dem Rodensteiner Hof passierten.
Neues Villenviertel im Norden
Dass man überhaupt einen Zugang zur Schule von Norden brauchte, könnte auf die zu dieser Zeit neu entstehenden Villenviertel im Bensheimer Norden zurückzuführen sein, die der Schule sicher viele Schülerinnen bescherte, deren Schulweg sich durch das neue Portal vielleicht verkürzte.
Und vielleicht befanden sich gerade unter den wohlhabenden Familien dieser Schülerinnen wiederum viele der neuen Autobesitzer und sorgten für zunehmenden Verkehr, der irgendwann zur Schließung der Pforte führte.
Wann genau das Tor zur Nibelungenstraße vermauert wurde, ließ sich bei den Recherchen zu diesem Artikel nicht ermitteln.
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