Hier könnte eigentlich das Zentrum eines eigenen kleinen Stadtviertels sein, doch wer nimmt die Wilhelmstraße anders denn als langgestreckte Durchgangsstraße mit hübschen Villen wahr?
Im Vergleich selten dagegen kommt man die auch vielen Einheimischen ungeläufige Friedrichstraße hinunter. Doch auch von hier aus erschließt sich nicht, was bei näherer Betrachtung plötzlich augenfällig erscheint. Es ist nämlich eine sorgfältige architektonische Gruppierung, die sich rund um den Platz vor dem Amtsgericht entfaltet.
Um die Einmündung der steil abwärts führenden Friedrichstraße in die Wilhelmstraße sind drei ehemals wichtige öffentliche Gebäude angeordnet, von denen allerdings nur noch eines seine Funktion behalten hat: das imposante und architektonisch bemerkenswerte Amtsgericht mit dem vorgelagerten Platz.
Meilenstein der Stadtentwicklung
Gegenüber, an der Ostseite der Wilhelmstraße und beiderseits der Friedrichstraße, befinden sich das ehemalige Gebäude der Reichsbank und die ehemalige evangelische Schule, beide inzwischen in privater Nutzung, nachdem in dem Schulgebäude zwischenzeitlich das Jugendzentrum und ein Schülerhort untergebracht waren. Dazu kommen die beiden Villen Wilhelmstraße 24 und 28, die das Gerichtsgebäude geradezu einrahmen und den Platz nach Norden und Süden abschließen.
Der Bau des Gerichtsgebäudes in den Jahren 1900 bis 1902 markierte einen wichtigen Meilenstein für die Entwicklung der Stadt Bensheim, die sich seit 1877 beim Großherzogtum um die Erteilung eines Gerichtssitzes beworben und schon 1894 den Bauplatz am heutigen Standort unentgeltlich zur Verfügung gestellt hatte. Über die Eröffnung schrieb am 3. Mai 1902 der Bergsträßer Anzeiger: „Alle Straßen der Stadt prangten aus diesem Anlass im reichsten Flaggenschmuck.“ Besichtigen allerdings durften die Bürger das Gebäude nicht, das so ein Zeitungsbericht ein paar Tage zuvor, im „prächtigen altdeutschen Stil“ errichtet worden war.
Entworfen hatte den Bau der großherzogliche Oberbaurat Karl Hofmann, der in Bensheim auch bei weiteren „staatstragenden“ Bauaufgaben beteiligt war, etwa beim Kaiser-Wilhelm-Denkmal auf dem Bahnhofsvorplatz (heute verschwunden) oder beim Bau der Lehrerbildungsanstalt des Großherzogtums Hessen, dem heutigen Alten Kurfürstlichen Gymnasium (AKG). Auch die evangelische Bergkirche in Auerbach wurde ab 1900 maßgeblich nach Plänen von Oberbaurat Karl Hofmann umgebaut.
Fast heiterer Gesamteindruck
Das Amtsgerichtsgebäude ist ein neoromanisch geprägter Massivbau, gemauert mit Bruchsteinen aus Granit und gelbem Sandstein, einer Materialmischung, die dem Gebäude trotz der eher trutzigen Konstruktion zu einem hellen, fast heiteren Gesamteindruck verhilft.
Genau in der Mittelachse der Friedrichstraße platziert ist ein großes Rundbogenportal. Die Eichentür ist mit mächtigen geschmiedeten Beschlägen versehen. Über den Türflügeln, unterhalb des Bogenfelds gibt es eine geschnitzte Inschrift: „streit soll verwehn recht soll bestehn“. Hoch darüber im Giebel sitzt in einem von Pflanzenformen bestimmten Feld ein Wappen mit dem Löwen des Großherzogtums Hessen. Als schlichtes zierendes Element findet man ein stark vereinfachtes Ornament, aus einem Zackenstab mit Voluten zusammengesetzt.
Von der Wilhelmstraße aus gesehen hinter diesem Eingangstrakt liegt der große Gerichtssaal mit hohen Rundbogenfenstern. Auf dem Gelände stand früher auch das Gerichtsgefängnis, das 1980 abgerissen wurde. Das eindrucksvolle Gebäude entstand zu der Zeit, als die Brüder Metzendorf mit ihrem besonderen Stil die neuen Villenviertel Bensheims prägten. Das Gerichtsgebäude spricht eine andere, bewusster auf Traditionen abzielende Formensprache, die sich aber doch nicht komplett unbeeindruckt vom Jugendstil zeigt.
Der großherzogliche Oberbaurat Karl Hofmann, 1856 geboren, hatte nach dem Studium seine berufliche Laufbahn offenbar 1885 als Stadt- und Dombaumeister in Worms begonnen, das damals als Teil der Provinz Rheinhessen zum Großherzogtum Hessen gehörte. In Worms galt er als Erfinder des „Nibelungenstils“, der als Vermischung von Neuromanik und Darmstädter Jugendstil beschrieben wird. Er entwarf in Worms prägende Bauten wie die von weither sichtbaren Pfeiler und Tortürme der Ernst-Ludwigs-Brücke über den Rhein.
Gegen Ende des Jahrhunderts war Hofmann dann stärker in Darmstadt tätig: 1897 konzipierte er den Bebauungsplan für die Mathildenhöhe in Darmstadt und er wurde unter anderem Professor an der Technischen Hochschule Darmstadt, künstlerischer Leiter in der Großherzoglich Hessischen Bauverwaltung und Mitglied des Denkmalbeirates im Großherzogtum Hessen. Er schuf in Darmstadt unter anderem das Amtsgericht (1903 bis 1905, also nach dem Bensheimer Amtsgericht) und das Mausoleum für die Eltern Großherzog Ernst Ludwigs auf der Rosenhöhe.
Gegenpol zur Michaelskirche
Das Bensheimer Amtsgericht bildet städtebaulich einen Gegenpol zu der am oberen Ende der Friedrichstraße gelegenen, schon 1863 eingeweihten evangelischen Michaelskirche. Am unteren Ende der Straße liegt die evangelische Konfessionsschule, 1892 erbaut, und ihr gegenüber, im Bauvolumen entsprechend, stilistisch jedoch komplett anders, wurde 1927 ein Bankgebäude der Reichsbank errichtet, die zuvor im Rodensteiner Hof untergebracht gewesen war.
Ein Stadtplan aus dem Jahr 1892 zeigt, dass an der rechtwinklig geplanten Kreuzung von Wilhelmstraße und Friedrichstraße auch ursprünglich eine platzartige Erweiterung vorgesehen war. Für den Bau des Gerichtsgebäudes wurde die Straßenführung jedoch modifiziert: Die Friedrichstraße ist nun nicht mehr gerade durchgehend, sondern wird etwas nach Süden versetzt in westlicher Richtung fortgeführt.
Vor dem Gericht liegt eine längs der Straße verlaufende kleine Grünanlage, eine Zufahrt ermöglicht Fahrzeugen das Halten direkt vor dem Portal. Durch die Verlagerung der Friedrichstraße – und damit der Einrückung des Gerichtsgebäudes in die ursprüngliche Straßenachse – liegen sich Kirchenportal und Gerichtsportal nun genau gegenüber. Wer in dem einen steht, blickt geradewegs auf das andere!
Zwei 1903 gebaute Villen fassen den kleinen Platz vor dem Gericht links und rechts ein – hier wohnte unter anderem jeweils der Amtsrichter mit seiner Familie. Man könnte das Ensemble als ein evangelisches Pendant zu der katholisch geprägten Stadtmitte begreifen: dort Sankt Georg mit dem städtischen Rathaus, hier die evangelische Kirche mit der vom (evangelischen) Großherzogtum ausgeübten Gerichtsbarkeit.
Das Amtsgericht Bensheim ist heute die Erstinstanz in Zivil-, Familien- und Strafsachen für Bensheim, Heppenheim, Lorsch, Zwingenberg, Einhausen und Lautertal und in bestimmten Belangen auch für Fürth und Lampertheim. Bis 1902 war jedoch das Amtsgericht Zwingenberg für Bensheim zuständig gewesen.
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