Gedenken

Die Grünen erinnern an die Bensheimer Kirchbergmorde

Von 
Thomas Tritsch
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Der Heimathistoriker Thilo Figay hielt bei der diesjährigen Gedenkfeier am Kirchberg die Rede. © Zelinger

Bensheim. In den letzten Kriegstagen wurden am 24. März 1945 zwölf Menschen von der Gestapo am Kirchberg erschossen. An sie erinnert ein Gedenkstein im Wald. Dort haben die Bensheimer Grünen am Sonntag an die Ereignisse von damals erinnert. Michael Krapp vom Vorstand begrüßte ein gutes Dutzend Teilnehmer zu einer traditionellen Veranstaltung, die von der Partei seit vielen Jahren am Volkstrauertag organisiert wird.

Im vergangenen Jahr war der öffentliche Termin aufgrund der Pandemie ausgefallen, die Parteispitze legte aber einen Kranz am Gedenkstein nieder. Diesmal hielt die Rede der Heimathistoriker und ehemalige Grünen-Vorstandssprecher Thilo Figaj aus Lorsch. Er betonte den Wert einer lebendigen Erinnerungskultur als Voraussetzung für den Diskurs der Zukunft.

Von der Gestapo erschossen

Drei Tage vor der Befreiung durch die amerikanischen Truppen, am 24. März 1945, wurden zwölf Häftlinge durch die Gestapo in Bensheim ermordet: Lina Bechstein, Rosa Bertram, Lothaire Delaunay, Eugene Dumas, Jakob Gramlich, Walter Hangen, Frederik Roolker, Erich Salomon und drei weitere unbekannte Gefangene wurden am Kirchberg durch Genickschüsse hingerichtet.

Gretel Maraldo wurde auf dem Weg der Hinrichtung erschossen. Die Gefangenen mussten vom Amtsgericht Bensheim aus etwa drei Kilometer zur Hinrichtungsstätte im Wald marschieren, wo heute ein Gedenkstein an die Morde erinnert.

Musikalisch begleitet wurde das Gedenken am Sonntag von Hannelore Schmanke (Musikschule Bensheim) und ihrer Schülerin Lara Scholz an der Flöte. Das Duo spielte zum Anlass passende Werke von Georg Philipp Telemann und Karl Joseph Toeschi. tr

Weil immer weniger Zeitzeugen authentisch und aus erster Hand aus der Vergangenheit berichten können, weiche die kommunikative Weitergabe von Wissen immer mehr indirekten Kanälen wie Film, Buch und Dokumentationen. Aber auch historisch aufgeladenen Orten komme aufgrund dieser Verschiebung eine zunehmend größere Bedeutung zu. Dazu zähle auch der Bensheimer Kirchberg.

Bedenkliches Konkurrenzdenken

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Allerdings erkennt Figaj ein bedenkliches Konkurrenzdenken in der deutschen und europäischen Erinnerungslandschaft: So stehe das kulturell geprägte Gedächtnis als schon bald exklusives Medium der Überlieferung einer Überzeugung gegenüber, die davon ausgeht, dass allein die mündlich-dialogische Form zu rechtfertigen sei.

Die Qualität der historischen Debatte machte er am Beispiel einer Verleumdungsklage gegen zwei polnische Geschichtsprofessoren deutlich, die von einem Gericht zunächst verurteilt, später aber wieder freigesprochen wurden. Die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung wog am Ende schwerer als die Argumentation der Nachkommen, dass eine bestimmte Behauptung der Historiker über einen Vorfahren in einem Buch über das besetzte Polen nicht der Wahrheit entspreche. Gerade für die Erforschung des Holocaust sei das Urteil ein wichtiges Signal, so die Wissenschaftler.

Auch in Litauen schwelt bis heute eine Debatte über den Holocaust. Dort geht es zuvorderst um die unrühmliche Rolle litauischer Nationalhelden bei der Ermordung einheimischer Juden. Seit einigen Jahren öffnen sich Gräben zwischen dem akademischen Diskurs und dem breiten Bewusstsein in der Bevölkerung, wo das Thema kaum vorhanden sei, sagen Kritiker.

Denn bei den meisten gelte die Einverleibung des Landes durch die Sowjetunion als die größte nationale Katastrophe des 20. Jahrhunderts – und die Kämpfer für die Unabhängigkeit als nationale Ikonen, die man nicht als Täter sehen will. Auch in diesem Fall werden die Erinnerungskonflikte beispielhaft deutlich, so Thilo Figaj an der Bensheimer Gedenkstätte.

Er warnte aber gleichzeitig davor, in die ohnehin schwierige Aufarbeitung einzelner Kapitel osteuropäischer Vergangenheit aus einer westlichen Perspektive heraus in belehrender oder gar korrigierender Absicht einzugreifen. Denn auch Deutschland habe mindestens 40 Jahre gebraucht, um sich dem Nationalsozialismus nicht nur zu stellen, sondern historische Fakten und Fußnoten anzuerkennen und öffentlich zu kommunizieren. Dies sei ein sehr mühsamer Prozess gewesen. „Unser Erinnerungsdiskurs begann erst in den 80er Jahren.“ Das Gerichtsverfahren gegen den SS-Mann Adolf Eichmann im Jahr 1961 und die späteren Ausschwitz-Prozesse ab 1963 haben zwar eine juristische Aufarbeitung des Holocaust in den Nachkriegsjahren eingeleitet, im öffentlichen Bewusstsein hätten sie zunächst aber relativ wenig verändert, so Figaj weiter.

Einen spürbaren Bruch zum Positiven habe es erst 1978 gegeben. Damals hatte die amerikanische TV-Miniserie „Holocaust“ breite Massen erreicht und den Begriff in die Köpfe der Menschen gebracht. Danach wurde er für den Genozid an den europäischen Juden auch im Deutschen gebräuchlich.

Richard von Weizsäcker war 1985 der erste Bundespräsident, der den 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ bezeichnete. Seine Rede 40 Jahre nach Kriegsende vor dem Deutschen Bundestag gilt als ein Meilenstein in der öffentlichen Aufarbeitung der NS-Zeit in Deutschland. Die zentrale Aussage in Weizsäckers Rede habe gleichsam auch als Befreiung der deutschen Erinnerungskultur gewirkt und die europäischen Dimensionen der Opfer betont. Aktive Vergangenheitsbewältigung und die Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses seien – trotz des Anlasses – aber nicht an Zyklen und bestimmte Zeiten gebunden, sondern entstünden weitgehend von unten aus der Bevölkerung heraus. Als prominenten Aspekt dieser Dynamik bezeichnete Figaj die lokale Geschichtsaufarbeitung, die wesentlich dazu beitrage, dass die Bürgergesellschaft überhaupt ein waches Bewusstsein gegenüber heimischer Geschichte entwickeln könne.

In Bensheim sei dies maßgeblich mit den Namen Fritz Kilthau und Peter Krämer verbunden. Sie hatten die Nazimorde am Kirchberg 1986 für ihre Broschüre „3 Tage fehlten zur Freiheit“ präzise aufgearbeitet und dokumentiert. Die Publikation der Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger erzählt die Geschichte des Verbrechens und seiner Opfer. Vor Ort sagte Figaj, dass diese Erinnerung keine klassische Alternative zum staatlichen Volkstrauertag sei, sondern als freies Gedenken der Menschen verstanden werden sollte, das dem Termin erst einen Inhalt verleiht.

Mit dem Beschluss zur Errichtung einer Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft habe der Bundestag im Oktober 2020 ein wichtiges Zeichen gesetzt.

Konkret will die Politik das Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs stärken. „Ich hoffe, dass die Parlamentarier dieser großen Aufgabe gerecht werden“, so Thilo Figaj am Kirchberg.

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