Bensheim. „Gertrud Eysoldt, eine Pionierin ihrer Zeit, übergibt den Staffelstab an ihre Nachfolgerin, eine Frau dieser Zeit.“ Mit diesen wertschätzenden Worten zeichnete der Präsident der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste, Professor Hans-Jürgen Drescher, gemeinsam mit Bürgermeisterin Christine Klein die Ausnahmeschauspielerin und erfolgreiche Charakterdarstellerin Birgit Minichmayr mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring 2024 aus. Die Jury mit Karin Henkel, Jossi Wieler und André Jung, Eysoldt-Ringträger aus dem Jahr 2018, würdigt damit die einzigartige Kunst Minichmayrs, insbesondere ihr unvergleichliches Spiel in „Heldenplatz“ von Thomas Bernhard, in einer Neuinszenierung von Frank Castorf am Burgtheater in Wien. Die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung gilt als einer der bedeutendsten Theaterpreise im deutschsprachigen Raum.
In dem Stück „Heldenplatz“ zeige Birgit Minichmayr „brillante Schauspielkunst“. Die Juroren nennen es „grotesk und hochkomisch. Herzzerreißend singt sie – und dann spricht sie wieder mit einer Dringlichkeit, als sei die Wunde Wiens, um die es geht in diesem Stück über Antisemitismus, Vertreibung und Exil, noch frisch und soeben wiederaufgebrochen. Als Robert Schuster monologisiert sie, einbalsamiert wie eine Mumie.
In ihren Dankesworten befasste sich die Preisträgerin anschließend mit der für sie dringenden Frage, „was Theater wirklich kann und ob es die Welt da draußen positiv beeinflusst“. Sichtlich aufgelöst und sehr emotional erinnerte sie an die Anfänge als junge Schauspielerin, die sie als Studentin der Max-Reinhardt-Schule 1998 mit der Schweizer Dramaturgin, Regisseurin und Intendantin Bettina Hering zusammenführte.
„Sie glänzt auch in vielen anderen Rollen“
„Die traut sich was“, begann Hering, Schauspieldirektorin der Salzburger Festspiele, Dramaturgin und Regisseurin ihre persönliche Laudatio auf ihre lange Weggefährtin: „Man ist gemeinsam stolz auf sie, und Minichmayr glänzt auch in vielen anderen Rollen, egal ob als Ophelia, Lady Macbeth oder Polly.“ Beim Zusehen im „Heldenplatz“ aber bekomme man Schnappatmung. Da schlackern einem die Ohren.“ Das Spiel der Schauspielerin charakterisierte Hering als „auf des Messers Schneide.“
In einem außergewöhnlichen, weil ungewohnt politischen Festakt mit vielen melancholischen, ernsten, nachdenklichen, aber genauso hoffnungsvollen und heiteren Momenten – und mit noch mehr innigen wie spontanen Umarmungen all derjenigen, die den Weg auf die Bühne im sehr gut besuchten Parktheater fanden – sprach Akademiepräsident Drescher in seinen einführenden Worten von der Aufgabe und der gesellschaftlichen Stellung des Theaters von heute, „das aus Katastrophen Kunst macht“. In dunklen Zeiten sei das Theater imstande zu zeigen, „dass alles auch ganz anders sein kann. Es wird sich den Herausforderungen unserer Zeit stellen und Alternativen zur Wirklichkeit anbieten.“
Für Drescher hat das Theaterstück „Heldenplatz“, das „in den Abgrund des 20. Jahrhunderts schaut“, angesichts des um sich greifenden Antisemitismus eine „neue Aktualität“. Wie auch weitere Festredner geißelte er den Rechtsruck in Europa und die Spaltung durch Krieg, einen „unberechenbaren narzisstischen Präsidenten in den USA“ und Migration als Gefahr für die Gesellschaft und fand deutliche Worte zu den „verfassungsfeindlichen Kräften im deutschen Parlament“.
Auch an die „große Gertrud Eysoldt“, Namensgeberin der Auszeichnung für Schauspielkunst, „und deren tragisches Schicksal“ erinnerte er. Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft musste sie Nazi-Deutschland verlassen. „Der Star von einst bekam auch nach Kriegsende nur noch unbedeutende Rollen. Der Antisemitismus war der Grund, dass Eysoldt in die Bedeutungslosigkeit stürzte.“
„Ein Raum, in dem wir Menschlichkeit spüren“
Bürgermeisterin Christine Klein bezeichnete in ihrer Rede Birgit Minichmayr und den Regisseur und Bühnenbildner Ran Chai Bar-zvi – ihm wurde der mit 5.000 Euro dotierte Kurt-Hübner-Regiepreis der Akademie verliehen – als zwei „außergewöhnliche Künstler“, die „in unruhigen Zeiten, in der die Demokratie herausgefordert wird, für ein Theater stehen, in dem Demokratie gelebt wird“. Birgit Minichmayr lote in jeder Rolle das Menschliche aus, auch das Unbequeme und scheue kein Risiko. Theater bedeute „Vielfalt und Dialog, Zuhören, stärker machen, Respekt, Empathie und kritisches Denken. Theater sei „ein Raum, in dem wir Menschlichkeit spüren und wie fragil und kostbar Freiheit ist. Haltung und Demokratie wird auf der Bühne geprobt. Deshalb ist Theater politisch.“
Weiter unterstrich Klein, dass Kultur, Musik und Theater in Bensheim einen hohen Stellenwert genieße. Man werde auch weiter finanzielle Mittel für das Theater und die Kunst bereitstellen, „auch wenn diese aktuell bescheidener ausfallen“. Die Bürgermeisterin dankte abschließend allen Sponsoren und der Ringelband-Stiftung, welche die Verleihung des Eysoldt-Rings finanzierten, der vier Jahre tätigen Jury sowie der neuen, hochkarätig besetzten Jury mit Ulrich Matthes (Eysoldtring-Träger im Jahr 2005), Juliane Köhler und Caroline Peters. „Theater ist ein Ort der Wahrheit, Freiheit und Menschlichkeit“, schloss die Bürgermeisterin ihre Rede.
In Vertretung des Hessischen Ministers für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, Timon Gremmels, ging Staatsministerin Diana Stolz (Ministerin für Familie, Senioren, Sport, Gesundheit und Pflege) ebenfalls auf die Bedeutung und die Faszination von Theater und Kunst ein. Sie spreche heute Abend „als Bürgerin von Bensheim“ betonte Stolz, die „gerade in finanziellen angespannten Zeiten“ auf die „feste, unverzichtbare Institution Parktheater“ und die in Bensheim beheimatete Woche junger Schauspielerinnen und Schauspieler verwies. „Kultur beginnt vor Ort, in der Familie und lässt uns fühlen, Mensch zu sein“, fuhr die Ministerin fort. Die beiden Preisträger nannte sie „Vorbilder, die die Kraft des Theaters verkörpern“.
Jo Schück, Journalist, Autor und seit elf Jahren Moderator des ZDF-Kulturmagazins „aspekte“ führte gewohnt unterhaltsam, locker und charmant durch den Abend. Für Schück, der sein Abitur am AKG Bensheim abgelegt hat, war der Auftritt ein „willkommenes Heimspiel, das mich allerdings eher nervös macht“.
Für den Rahmen der Preisverleihung sorgte auf ausdrücklichen Wunsch von Birgit Minichmayr der amerikanische Musiker, Schauspieler und Theater-Regisseur Daniel Kahn mit einer Reihe jiddischer Lieder und vertonter Gedichte, oft mit sozial-politischer Thematik. Kahn sang in mehreren Sprachen, spielte dazu Gitarre, auf dem Klavier, Akkordeon, Mundharmonika und Ukulele und verlieh der Preisverleihung mit seiner intensiven wie berührenden musikalischen Kunst eine ganz besondere Atmosphäre.
Wie sehr die Verleihung des Gertrud-Eysoldt-Rings 2024 das Publikum fasziniert und begeistert hat, unterstrichen am Ende der gut zweistündigen Veranstaltung mehrere Besucher. „Das war eine der besten und am meisten aufwühlenden Preisverleihungen der letzten Jahre, wenn nicht die eindrucksvollste überhaupt“, so war zu hören.
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