Serie "Am Wegesrand"

Bensheimer Neubauten der 1950er und 60er Jahre

Heute in unserer Serie "Am Wegesrand": In der Bensheimer Innenstadt lassen sich an verschiedenen Gebäuden die ganz unterschiedlichen formalen Bekenntnisse der 1950er und 60er Jahre erkennen.

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Zwischen den historischen Fachwerkhäusern wurde in der unteren Hauptstraße am Anfang der 1960er Jahre ein selbstbewusstes architektonisches Statement platziert. © Eva Bambach

Bensheim. Auf dem Weg durch die Bensheimer Innenstadt fallen besonders die schmucken Fachwerkhäuser ins Auge, die den Charakter der Altstadt prägen. Es lohnt aber auch ein Blick auf die dazwischen gestreuten Bauten, die in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Fast 150 Wohn- und Geschäftshäuser sowie die Pfarrkirche Sankt Georg und das Rathaus am Marktplatz hatten in der Stadt in Trümmern gelegen.

Auch wenn in Bensheim die Zerstörungen nicht das gesamte Zentrum ausradierten und einen kompletten gestalterischen Neubeginn forderten wie in anderen Städten, so lassen sich doch an der einen oder anderen Stelle die ganz unterschiedlichen formalen Bekenntnisse der 1950er und 60er Jahre erkennen. Nicht die Rede ist hier von den drastischen Eingriffen und Verdichtungen der 1970er und 80er Jahre.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war zunächst kein Geld da, um große Pläne zu verwirklichen. Im 1964 erschienenen Jubiläumsband „1200 Jahre Bensheim“ heißt es, dass es in Bensheim wegen fehlender Wirtschaftskraft anders als in Darmstadt oder Frankfurt erst einmal nur Kioske anstelle der zerstörten Geschäfte gegeben habe. Für 1946 nennt das Buch vor allem zwei Bauvorhaben: Das Kloster und mehrere Siedlungshäuser in der Fröbelstraße. Bis zur Währungsreform im Juni 1948 entstanden nur 24 Neubauten. Danach ermöglichten unter anderem Landesdarlehen umfangreichere Bautätigkeit. Schon 1949 – zum Winzerfest – wurde das Stadtpark-Café eröffnet, das dann eine Gasexplosion im Jahr 1971 zerstörte.

Bedürfnis nach Leichtigkeit

Im gleichen Jahr wurden in der oberen Hauptstraße das Sportgeschäft Klingler und ein weiteres Café, das Café Weiffenbach, eröffnet. Es erscheint aus heutiger Sicht merkwürdig, dass diese neuen Gewerbebauten ausgerechnet im Rahmen der Freizeitgestaltung angesiedelt sind. Doch auch die Formen der Architektur des anbrechenden Jahrzehnts sprechen von einem Bedürfnis nach Leichtigkeit.

Bevor Ende 1951 Materialnot und Geldmangel die Bautätigkeit bremsten, wurden mehrere Wohnblöcke und Reihensiedlungshäuser außerhalb der Altstadt errichtet – und die katholische Pfarrkirche am Marktplatz eingeweiht. In der Hauptstraße kamen 1951 unter anderem die Eisenwarenhandlung „Schumann & Lulay“ hinzu und in der Darmstädter Straße die Kirchbergapotheke.

Die Balkone sind inzwischen neu verkleidet, aber der Schwung, den man ihnen an diesem Gebäude am Aufgang zur Kalkgasse im Jahr 1953 gegeben hatte, blieb erhalten. © Eva Bambach

Es gab in dieser Phase im Bauen der neuen Republik keinen eigenen, ausgeprägten Stil. Viele Bauten zeichnen sich durch ein gezielt traditionelles Erscheinungsbild aus. Aber man knüpfte auch an die neuen technischen Entwicklungen der 1920er und frühen 30er Jahre an. Hauptsache schnell und billig, sei das Motto gewesen, lautet ein oft wiederholter Vorwurf – und dass eine umfassende Planung für Wiederaufbau und Neugestaltung der zerstörten Städte unterblieben sei. In der Tat waren die zu lösenden Aufgaben gewaltig: In Bensheim wurden von 1956 bis 1960 pro Jahr im Durchschnitt 100 Häuser mit 330 Wohnungen gebaut.

Dass man sich aber durchaus Gedanken um Gestaltung machte, beweisen nicht nur intellektuelle, volksaufklärerische Ansätze, wie die prominent besetzten Darmstädter Gespräche, deren zweite Runde im Jahr 1951 zum Thema „Mensch und Raum“ insbesondere die Architektur in den Fokus nahm. Schaut man sich die Bauten der 1950er Jahre an, auch in Bensheim, dann findet man ein ausgeprägtes Bemühen um Gestaltung mit einfachen Mitteln: Geschmiedete Geländer, Kratzputzmotive und Mosaiken dekorieren die Fassaden der Häuser und verleihen ihnen Individualität.

Die Formen suchen nach Leichtigkeit, mit filigranen Profilen und nach oben strebenden, längsrechteckigen Fenstern – es ging nicht zuletzt um eine entschiedene Abkehr von der monumentalen Nazi-Bauweise. Mit kühnem Schwung etwa umfangen die Balkons des 1953 am Aufgang zur Kalkgasse durch Umbau einer Gaststätte neu entstandenen Wohn- und Bürohauses die Rundung des Baukörpers.

Doch fanden diese Ansätze ein offenbar abruptes Ende. In den 1960er Jahren wurden wieder monumentale Formen bevorzugt. Das spiegelt sich auch in der Jubiläumsschrift des Jahres 1964: Die Architektur an dem Ritterplatz zugewandten Seite der Hauptstraße mit den noch heute beeindruckenden runden Glasfronten wurde immerhin als befriedigend bezeichnet. Der 1962 errichtete Erweiterungsbau des Caritasheims St. Elisabeth im Park der Villa des Kommerzienrates Euler dagegen erntete allerhöchstes Lob: Er füge sich gut in die Landschaft ein „und darf sowohl funktionell als auch architektonisch als vollkommen bezeichnet werden“.

Betonung der Horizontalen

Auch in der Bensheimer Hauptstraße wurden in den 1960er Jahren noch durch den Krieg entstandene Baulücken gefüllt – aber auch solche, die erst durch Abriss geschaffen wurden: Verloren gingen dabei Anfang der 1960er Jahre zum Beispiel die Fachwerkhäuser Hauptstraße 35 (heute Rossmann), 55 und 57 (aktuell Bäckerei Rauen). Die hier neu entstandene Architektur steht mit ihrer blockhaften Betonung der Horizontalen in starkem Kontrast zu den nicht weit entfernten Häusern aus dem Jahrzehnt zuvor.

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Der Umgang mit alter Bausubstanz in Bensheim war insgesamt unterschiedlich: Im gleichen Zeitraum 1955/56, in dem der prächtige Fachwerkbau des Mespelbrunner Hofs einem Erweiterungsbau des Kaufhauses Müller weichen musste (heute ist hier unter anderem eine Filiale der Telekom), restaurierten die Besitzer der Fachwerkhäuser Mitterle, Frank und Lang am Marktplatz ihre Gebäude.

Und so kann man, wenn man die Hauptstraße entlang geht und nach oben schaut, zwar kein ganz geschlossenes Altstadtbild bewundern, aber eine Reihe von sehr unterschiedlich und mitunter durchaus würdig gelösten Bauaufgaben.

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