Bensheim. Es beginnt kalt und nüchtern dokumentarisch. Ein erläuternder Choral diktiert maschinenartig den Prolog ins Publikum. Langsam steigert sich das Geschehen in einen dramatischen Diskurs über Moral, Verantwortung und öffentliche Resonanzen.
Gerade die konstante Distanz zu Handlung und Figuren verleiht dem Thema sexuelle Gewalt eine beklemmende Nähe und anonyme Allgegenwärtigkeit, der sich das Publikum nicht entziehen kann. Camilla Gerstner hat ein Stück geschrieben und inszeniert, in dem relevante gesellschaftliche Fragen kollidieren und nach einem Ausweg suchen.
Jugendliche als Theaterkritiker Die Woche junger Schauspieler ...
Mit ihrer Abschlussarbeit im Fach Regie an der Folkwang Universität der Künste war die 26-Jährige am Samstag zu Gast in Bensheim. Die zweite Aufführung im Rahmen der Woche junger Schauspieler (WJS) wurde – wie alle Stücke – sowohl auf der Bühne gezeigt wie auch als Aufzeichnung online übertragen.
Die Zuschauer im nicht einmal halbvollen Parktheater erlebten 90 packende Minuten mit fünf hervorragenden Darstellern und einer dramaturgisch klugen Szenenarchitektur, die das Geschehen verbal rekapituliert und dabei das Innenleben der Figuren in ihrer ganzen Tiefe und Widersprüchlichkeit offenlegt.
Joshua Hupfauer, Nils Karsten, Susann Ketley, Lea Taake und Amelie Willberg spielen durchweg intensiv und zeigen eine beachtliche Bühnenpräsenz, die zum Finale in einer stakkatoartigen Auflistung von Social-Media-Kommentaren über die Tat und deren Konsequenzen kulminiert. Und ganz am Ende kommt schließlich doch noch die Frau zu Wort, die von ihrem Freund nach einer ausgelassenen Party vergewaltigt wurde.
„Die verlorene Ehre des (…)“ kreist um sexuelle Selbstbestimmung innerhalb einer Beziehung, um Vertrauen und Egomanie, um Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit, und nicht zuletzt um die soziale Be- und Verurteilung einer Tat, die als Geständnis eines vermeintlich reuigen Mannes im Raum steht und damit zum Spielball von Interpretationen und Auslegungen wird.
Handlung und Personen seien frei erfunden, Ähnlichkeiten mit anderen Werken aber nicht zu vermeiden, heißt es zu Beginn. Der Name der Hauptfigur wird durch eine Leerstelle markiert. Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ diente der jungen Autorin als Inspiration.
Darin geht es um eine bislang unbescholtene Frau, die wegen ihrer Freundschaft zu einem Straftäter – mitten während des RAF-Terrorismus – Opfer der Sensationsgier der Boulevardpresse wird. „Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich“, hatte Böll 1974 in einer Vorbemerkung geschrieben.
„Ich habe leider nicht die Rechte an dem Namen Blum bekommen“, so Camilla Gerstner bei der Auftaktveranstaltung der WJS am Tag zuvor. Geschickt und zitatenreich spielt sie mit den elementaren Aspekten von Bölls Erzählung, lenkt das Augenmerk aber weitaus stärker auf die Frage nach individueller Schuld und kollektiv motivierter Sühne im Kontext einer sensationslüsternen Presse, die durch ein Leck bei der Polizei von der Sache Wind bekommt und den Fall in die Schlagzeilen bringt. Man müsse den Leuten das geben, was sie erwarten, sagt der Chefredakteur.
Unterschiedliche Perspektiven
Bei Camilla Gerstners moderner Interpretation sind es mehr die sozialen Medien, die dem Fall als Resonanzkörper dienen und eine freie Dynamik entfachen, die nicht mehr unter Kontrolle zu bringen ist.
Zunächst fokussiert das Stück die männliche Perspektive auf sexualisierte Gewalt: Sachlich und emotionslos schildert der Täter, der seit zweieinhalb Jahren mit seiner Freundin zusammenlebt und die Tat selbst anzeigt, den Tathergang in präziser Chronologie und detaillierter Genauigkeit. Das wiederholte „Nein!“ der Frau bleibt ungehört.
Unbeholfen, beinahe liebevoll klingt sein Geständnis bei der Polizei, wo ihm ein junger Beamter – man kennt sich im kleinen westfälischen Städtchen – dazu rät, aus der Sache keine große Geschichte zu machen. Das Volk reagiere nun mal hart auf Vergewaltigung, von der Staatsanwaltschaft ganz zu schweigen. Soll der junge Mann mit dem frischen Bachelor-Abschluss seine Zukunft wegen eines einzigen „Fehltritts“ wegschmeißen?
Die Abschlussarbeit fragt nach Perspektiven. Neben der männlichen Sicht auf ein Sexualdelikt, die auch in den Institutionen deutlich wird, werden auch die weiblichen Standpunkte ausgeleuchtet. Es geht nicht nur um die Befriedigung eines Triebs, sondern um einen Akt der Unterwerfung und um einen Vertrauensbruch, der mindestens ebenso schwer wiege wie die körperliche Gewalt, so die Ex-Freundin am Ende der Geschichte.
Starker Stoff für ein Theaterpublikum, das bei aller inhaltlichen Dunkelheit und juristischen Komplexität eine insgesamt leichtfüßige und anschmiegsame Inszenierung erlebt.
Das Live-Piano von Katrin Meier lockert die Szenen auf und nimmt dem Thema viel von seiner emotionalen und diskursiven Schwere. Ein herausragendes Stück junges Autorentheater. Bölls Reaktion darauf wäre interessant gewesen.
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