Bensheim. Mit dem aufrührerischen Briefroman Goethes hat „Die Leiden des jungen Azzlack“ recht wenig zu tun, doch trotzdem brennt in beiden Werken ein Feuer von atemberaubender Kraft. Das moderne Theaterstück ist nämlich nichts weniger als eine Liebeserklärung an die literarische Strömung des sogenannten „Sturm und Drang“. Dabei steht es seinen über 200 Jahre alten Vorgängern in Provokation und Wildheit um nichts nach. Das Stück ist ein wütender Aufschrei gegen die Unterdrückung all jener, die sich nicht frei entfalten können.
Im Fokus steht die Rebellion eines jungen Mannes, der nicht länger auf seine Nationalität reduziert werden möchte. „Du musst doch nur ein bisschen Text vor einer Kamera ablesen“, heißt es am Anfang des Stücks über die Schauspielerei. Das Schauspiel von Hauptdarsteller Eidin Jalali bietet dem Publikum zum Auftakt der Woche junger Schauspieler in Bensheim eine 75-minütige Antithese zu dieser ersten Aussage. Jalali begeistert mit Charisma, Witz und gewaltigem Körpereinsatz. Er wirft sich zum Klang eines wuchtigen Techno-Beats umher, turnt über die Bühne und hängt kopfüber von der Decke.
Zu Beginn des Stücks wird die sogenannte Vierte Wand – die Grenze zwischen Theaterbühne und Publikum – immer wieder auf humorvolle Weise eingerissen. Der Protagonist A., der sich gerade mitten in einem Casting befindet, wendet sich dabei verschmitzt ans Publikum, um seine Lage zu kommentieren. Diese Einschübe werden durch den raffinierten Einsatz von Licht unterstützt. Während des Castings blitzt es als einzelner, greller Strahl auf A. hinab, und wenn sich A. an das Publikum wendet, setzt ein weiches, orangenes Licht ein.
Besonders flächig wirkt das Licht hierbei im Rauch der Shisha, die im Zentrum der Bühne steht. Die Requisiten auf der Bühne werden kreativ genutzt. Die persisch wirkenden Kissen werden als Metapher für die Last einer mehrsprachigen Erziehung verwendet. Autoreifen, die am linken Rand der Bühne zu finden sind, stehen natürlich für das Deutschsein. Unbeholfen versucht A. auf den Reifen zu balancieren, nur um dann förmlich in sie hineinzusinken.
Wer nun aber glaubt, dass es sich bei „Die Leiden des jungen Azzlack“ um einen lustigen Integrationsabend handelt, dessen größte Raffinesse darin besteht, die Vierte Wand zu durchbrechen, der irrt gewaltig. Der erwartet nämlich nicht die wahre Genialität des Stückes. Denn mitten in seinem verzweifelten Monolog über Selbstfindung bricht A. ab, scheint nicht mehr weiterspielen zu wollen, macht Anstalten, von der Bühne zu gehen.
Aber das Stück hört nicht auf. Das Saallicht geht an und entreißt dem Publikum die sonst so gewohnte Sicherheit. Die vierte Wand wird wieder geschlossen, doch nun ist das Publikum mit A. eingeschlossen, der nun die Zuschauer adressiert, ohne eine Handlung auch nur vorzutäuschen.
Das wahre Leiden des „Azzlack“ besteht nämlich nicht aus dessen seelischen Plagen, sondern aus dem Publikum, das sich an ihm mit akademischem Voyeurismus ergötzt und „Azzlack“ vermutlich für einen türkischen Vornamen hält. Das Stück entreißt seinem Publikum brutal die Sicherheit und weist auf die Abgründe der eigenen Natur hin. „F*ckt euch, ihr dreckigen Heuchler!“, schreit A. ihnen entgegen.
„Die Leiden des jungen Azzlack“ erteilt der handzahmen Kunst seiner Zeitgenossen eine Absage und findet zurück zu der Art von Kunst, für die Deutschland einst bekannt war. Die Art von Kunst, die provoziert und die konfrontiert. Das Stück entdeckt die lange verschollene Erkenntnis wieder, dass Kunst gefährlich sein darf. Das Publikum zeigt, wie lange diese Erkenntnis vergessen war.
Pikiert verlassen Zuschauer den Saal, andere wenden sich mit wütenden Worten gegen den Darsteller, der sie jedoch gekonnt abschmettert. A. macht darauf aufmerksam, dass selbst die Zuschauer, die bleiben, nicht besser sind als die, die gehen. „Jetzt tut’s weh, oder? Aber irgendwie gefällt euch das, nicht wahr?“ Besser wurde die fast schon sadomasochistische Beziehung zwischen Darsteller und Publikum selten beschrieben.
Die diabolischste Wendung spart sich das Stück aber bis ganz zum Ende auf. Nachdem A. seine wütende Rede gegen das Publikum beendet hat, erstrahlt nämlich ein letztes Mal das kalte Scheinwerferlicht des Castings und aus dem „Off“ ertönt das gepflegte Lob der Juroren bezüglich seines gerade präsentierten Gefühlsausbruchs. Der ehrliche Aufschrei für mehr Selbstentfaltung wird auf ein gut geschauspielertes Konsumgut reduziert. Anstatt A’s Gefühle endlich anzuerkennen, wird er beklatscht und für seine Glaubwürdigkeit gelobt. Und wie reagiert das Publikum? Es fängt an, zu klatschen und lobt Jalalis Glaubwürdigkeit.
Schlussendlich handelt das Theaterstück von dem inneren wie auch äußeren Konflikt eines jungen Mannes mit Migrationshintergrund, der die Probleme der heutigen Gesellschaft aufzeigt. „Die Leiden des jungen Azzlack“ ist ein elektrisierendes Muss für jeden modernen Theaterbesucher. Ein Stück mit dem Publikum als Antagonisten. Ein Stück, das das einstige Feuer des „Sturm und Drangs“ ins 21. Jahrhundert befördert.
Von Ben Leenen und Lukas Geißelmann, AKG Bensheim
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