Soziales

Ansturm auf die Bensheimer Tafel

Von 
Dirk Rosenberger
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Warten auf Lebensmittel: Die Zahl der Kunden bei der Bensheimer Tafel ist in den vergangenen Wochen sprunghaft gestiegen. © Neu

Bensheim. Die Energiepreise steigen, Lebensmittel werden teurer und in der Ukraine tobt der russische Angriffskrieg. Die Zusammenhänge sind bekannt, das Wissen darum ändert aber nichts an der teils prekären Situation ärmerer und benachteiligter Menschen sowie der Geflüchteten, die in der Region mehrheitlich privat untergebracht sind.

Bei der Bensheimer Tafel spürt man diese Veränderungen seit Wochen. „Zu jedem Termin kommen zwischen 30 und 45 neue Kunden zu uns. Es sind fast alles junge Mütter mit Kindern aus der Ukraine, das heißt für uns, wenn wir bisher pro Ausgabe zwischen 120 und 130 Kunden hatten, sind es im Moment an manchen Tagen bis zu 210 Kunden. Unsere gesamte Anlieferungsstraße steht voll mit Menschen und das alles unter Corona-Bedingungen“, schildert Vorsitzende Mariette Rettig die aktuelle Lage.

Einen Aufnahme-Stopp verhängen, wie dies schon andere Einrichtungen getan haben, kommt für sie aber nicht infrage. Menschen in Not wegschicken? Das gab es bei der Bensheimer Tafel seit ihrer Gründung im Jahr 2006 nie. „Das ist auch kein Thema für uns. Wir wollen vielmehr schauen, ob wir am Ablauf etwas verändern können, um den Ansturm besser bewältige zu können“, so Rettig.

„Alle machen wunderbar mit“

Doch unabhängig davon, müssen die ehrenamtlichen Mitarbeiter ein deutlich höheres Arbeitspensum bewältigen. Allein die Ausgabe dauert mittlerweile gut vier Stunden, zuvor waren die Lebensmittel an die Wartenden in gut zwei bis zweieinhalb Stunden verteilt. „Es ist unglaublich, was da geleistet wird. Ohne zu murren, machen alle wunderbar mit“, spricht die Vorsitzende im Gespräch mit dieser Zeitung ein großes Lob für ihre Mannschaft aus.

Zumal die Schicht nicht nur ein paar Stunden, sondern fast den ganzen Tag dauert. Nachdem die Bedürftigen abgezogen sind, muss noch aufgeräumt, geputzt, desinfiziert werden. Schließlich sei die Corona-Pandemie nicht einfach verschwunden, damit müsse man ebenfalls noch umgehen. „Das ist schon der Wahnsinn, nach so einem Tag ist man ganz schön platt“, bilanziert Rettig. Dennoch kämen alle am nächsten Tag wieder und packen an.

Bewährt habe sich vor allem in der jüngeren Vergangenheit, aber auch schon davor, das Schichtmodell. Wer eine Woche Dienst versieht, hat vier Wochen frei. 20 bis 25 Personen sind pro Ausgabe insgesamt im Einsatz, auf der Liste der Tafel stehen 240 Helfer. Über Personalnot musste der Verein bislang nicht klagen.

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Eine Überraschung wäre dies aufgrund der höheren Anforderungen sicherlich nicht. Aber Mariette Rettig weiß, dass sie sich auf ihre Truppe verlassen kann - und das Team wiederum weiß, was es an ihrer Vorsitzenden hat, die den Betrieb nicht nur zusammenhält und strukturiert, sondern ebenso mit gutem Beispiel vorangeht und sich kaum eine Ruhepause gönnt.

Die steigenden Kundenzahlen sind dabei nur eine Seite der Medaille. Wer mehr Menschen unterstützen muss, braucht zwangsläufig mehr Ware. Manch eine Tafel hat bereits Schwierigkeiten, an Lebensmittel zu kommen. „Wir haben Übung in der Beschaffung, Engpässe gibt es bisher nicht“, betont Rettig. Schon während des Corona-Lockdowns hatte man einen guten Draht zu Speditionen und konnte sich dort bedienen.

Von diesen Kontakten profitieren die Bensheimer jetzt erneut. Es müssten zwar größere Strecken zurückgelegt werden, dafür müsse man das Angebot nicht verknappen. Von Frankfurt bis Heidelberg reicht mittlerweile das Einzugsgebiet, wo immer es etwas zu holen gibt, sind die Ehrenamtlichen mit ihren Transportern vor Ort.

Trockenware und Spaghetti

Meistens sind es lange haltbare Lebensmittel, Trockenware, deren Umverpackung beschädigt wurde und daher nicht mehr im Supermarkt verkauft werden darf. Seit ein paar Wochen können auch regelmäßig Tiefkühl-Spaghetti aus einem Heppenheimer Lager beschafft werden - „das reicht von der Menge her für ein paar warme Mahlzeiten“, meint Rettig. Hinzu kämen Privatleute, die Lebensmittel kaufen und der Tafel als Spende zur Verfügung stellen.

Die Verantwortlichen werden deshalb auch nicht nervös, wenn nach zwei Ausgaben in der Woche die Bestände enorm geschrumpft sind. Das Auffüllen habe immer geklappt, sie sei da recht zuversichtlich, konstatiert Mariette Rettig. Beispielhaft nennt sie das Trockenlager von Alnatura in Lorsch („ein Geschenk des Himmels“). Da bekomme man immer Nachschub.

Bemerkbar macht sich die aktuelle Lage mit Lieferproblemen in den Supermärkten und Hamsterkäufen dennoch. Frische Ware gibt es nicht mehr in der Menge wie früher, nach Einschätzung der Vorsitzenden wird in den Märkten anders disponiert, es bleibt schlicht weniger übrig. „Grundsätzlich ist es ja gut, wenn es nicht zu viele überschüssige Lebensmittel gibt.“ Bei der Tafel weichen sie dann auf andere Ware aus.

Wie lange der Ansturm auf die Einrichtung in der Rheinstraße noch anhält, lässt sich für die Beteiligten schwer abschätzen. „Die Menschen aus der Ukraine wollen natürlich irgendwann wieder in ihre Heimat. Aber wann das möglich sein wird, weiß niemand“, verdeutlichte Rettig, dass sie vorerst nicht mit weniger Kundschaft bei den Terminen rechnet.

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Unabhängig davon, fordern die allgemein steigenden Preise in Deutschland ihren Tribut. Die Tafel-Chefin berichtet von einer Seniorin. Die habe ihr gesagt, dass sie keinen Cent mehr übrig habe und auf die Versorgung durch die Lebensmittelausgabe angewiesen ist. Sie dürfte kein Einzelfall in diesen Tagen sein.

Rund 2000 Kilogramm an Waren verlassen pro Termin nach Schätzungen der Vorsitzenden das Gebäude auf dem ehemaligen Bundeswehrdepotgelände. Die Kunden kommen dabei nicht nur aus der näheren Umgebung, sondern nehmen selbst weitere Anreisen in Kauf, um Hilfe zu bekommen.

Mariette Rettig gibt sich deshalb nicht der Illusion hin, dass der momentane Ansturm bald abebben könnte. Umso wichtiger ist für sie, dass sie sich auf ihre Mannschaft verlassen kann. „Es ist wahnsinnig, was sie leisten. Das kann ich gar nicht genug betonen. Sie verdienen ein dickes Lob.“

Die Lebensmittelausgabe in der Rheinstraße 4a hat dienstags von 11 bis 13 Uhr und donnerstags von 14 bis 16 Uhr geöffnet.

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