Sie ist zurzeit in aller Munde, die „Work-Life-Balance“, also die Ausgewogenheit zwischen Beruf und Privatleben. Markiert sie doch den aktuellen Generationenkonflikt, der endlich mal ein bisschen Pfeffer ins gesellschaftliche Leben bringt. Die Alten kritisieren die Jungen, weil für die der Beruf allein nicht mehr im Mittelpunkt des Lebens steht. Die Jungen wehren sich, denn für sie ist der Materialismus als Daseinszweck nicht mehr erstrebenswert. Hatten wir doch alles schon, oder? „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, formulierte Theodor W. Adorno den Widerspruch einst und befeuerte damit die Lebenseinstellung einer ganzen Generation (ausgerechnet jener, die heute die Jungen anstänkert). Aber Adorno spielt für die Generation Z keine Rolle mehr. Und damit wären wir bei einer ganz anderen Balance, die aus dem Gleichgewicht geraten ist. Ich nenne sie mal – ganz hip – die „Body-Brain-Balance“. Denn der Body, nicht das Hirn, steht heute im Blickpunkt vieler Menschen. Gestählt muss er sein und muskulös, damit die Tattoo-Ornamente nicht erschlaffen. Der Körper muss aussehen wie ein Fleisch gewordener Perserteppich.
Beliebt als Tattoo-Motive sind auch Gesichter, etwa von Popstars, Ehepartnern oder dem wirklich treuen Haushund. Einen strammen Oberarm mit Adornos hornbebrilltem Konterfei als Tätowierung wird man vergeblich suchen. Denn die freie Zeit wird heute gern im Fitnessstudio verbracht. Nicht in einer Bibliothek oder einem Lesesaal. Zugegeben, die Rückkehr der Zeiten, als Studierende sich in ihrer Freizeit zum Studium von Karl Marx’ „Das Kapital“ getroffen haben, ist nicht unbedingt erstrebenswert. Aber wenn das Interesse an intellektuellen Fähigkeiten ein ebenso großes Ansehen hätte wie die Protzerei mit Bizeps und Bauchmuskeln, wäre die Welt ein wenig besser. Manchmal hat man den Eindruck, sie ist nicht weit weg von der düsteren Zukunftsvision des unvergessenen Kabarettisten Dieter Hildebrandt. Der hatte einst die Vorstellung, eines Tages würde es nur noch muskelbepackte Athleten geben, denen eine „Denkhülse“ reichen würde.
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