Filmfestspiele

Cannes: Sympathieträger erhält den Hauptpreis

Die Internationalen Filmfestspiele in Cannes zeichnen zum Abschluss der 77. Ausgabe am Samstag durchweg überzeugende Werke aus. Die Goldene Palme geht in die USA für "Anora" von Regisseur Sean Baker

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Patrick Heidmann
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US-Regisseur Sean Baker (mit Palme) und Mitwirkende seines Films „Anora“ bei der Preisgala in Cannes. © Gao Jing/XinHua/dpa

Cannes. Die Goldene Palme der 77. Internationalen Filmfestspiele von Cannes, die am Samstagabend an den Regisseur Sean Baker verliehen wurde, ist die erste für einen US-amerikanischen Film seit Terrence Malicks „The Tree of Life“ 2011 - und durchaus eine interessante Entscheidung.

Von einer echten Überraschung kann man vielleicht nicht sprechen: Seit der Weltpremiere zur Festivalmitte gehörte „Anora“ zu den Favoriten für die Preisverleihung; wenige Filme hatten im Programm für derart einhellige Begeisterung gesorgt wie Bakers. Gerade durch die Tatsache, dass es in der Geschichte über die titelgebende Stripperin viel zu lachen gibt, stach „Anora“ aus den 22 Filmen im Wettbewerb heraus. Auch die Jury, zu der neben der Vorsitzenden Greta Gerwig Stars wie Eva Green, Lily Gladstone oder Omar Sy und Regieführende wie Nadine Labaki, Hirokazu Koreeeda und J.A. Bayona gehörten, schien Gefallen daran zu finden, inmitten tragischer Schicksale mit so viel unverhoffter Leichtigkeit konfrontiert zu werden.

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Patrick Heidmann
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Für Baker, der sich in seiner Dankesrede vor seinen Kollegen Francis Ford Coppola und David Cronenberg verneigte und vor allem die Kino-Leinwand als den Ort pries, an dem Filme ihre Zukunft haben, ist die Auszeichnung die Erfüllung eines lange gehegten Traums, wie er zu Protokoll gab. Die Goldene Palme ist aber auch die konsequente, vorläufige Krönung einer erstaunlichen Karriere. Seit 25 Jahren erzählt der Amerikaner mit minimalen Budgets und viel Authentizität Geschichten über Menschen am Rande der Gesellschaft, nicht selten aus Bereichen der Sexarbeit. „Tangerine L.A.“ etwa, der ihm 2015 größere Aufmerksamkeit in der Festivalszene einbrachte, drehte Baker komplett auf einem iPhone. Zwei Jahre später feierte „The Florida Project“ in einer Nebenreihe in Cannes Premiere und bescherte Willem Dafoe eine Oscar-Nominierung, 2021 folgte mit „Red Rocket“ die erste Einladung in den Wettbewerb an der Croisette.

Alte Meister aus Nordamerika gehen leer aus

„Anora“ ist mit Blick auf seine Mischung aus Realismus und Pop-Ästhetik Bakers bislang versierteste Arbeit, und vom Spiel (nicht zuletzt der Hauptdarstellerin Mikey Madison) über die Bilder bis zum Soundtrack so gelungen, dass man an der Entscheidung der Jury kaum mäkeln mag. Zumal Baker wieder bewies, dass es wenig sympathischere, bescheidenere Filmemacher gibt als ihn. Und wenige, die das Kino mehr lieben: der auch in sozialen Netzwerken als Cineast aktive Regisseur kam schon vor Festivalbeginn nach Frankreich, um viel Zeit zum Filmegucken zu haben. Dass es mit Mohammad Rasulofs „The Seed of the Sacred Fig“ einen Film gab, der die Goldene Palme noch mehr verdient hätte, muss dennoch erwähnt werden. Kein Werk war so packend, dringlich und zeitgemäß wie dieses Familiendrama vor dem Hintergrund der nicht zuletzt von jungen Frauen vorangetriebenen Proteste gegen das iranische Regime. Ganz übersehen hat die Jury das Meisterwerk des jüngst aus seiner Heimat geflohenen Regisseurs immerhin nicht - und verlieh ihm einen Spezialpreis. Ansonsten gab es an den Entscheidungen nichts auszusetzen. Das berührende, poetische Drama „All We Imagine As Light“ der Regisseurin Payal Kapadia erhielt den Großen Preis der Jury. Und während der Portugiese Miguel Gomes für „Grand Tour“ nach Jahren als Kritikerliebling nun mit dem Regiepreis auch endlich mal auf großer Bühne geehrt wurde, erhielt Jacques Audiards wilde Mischung aus Kartell-Thriller, Trans-Selbstfindung und Musical sogar zwei Preise: „Emilia Pérez“ bescherte ihm den Jury-Preis und seinen Schauspielerinnen Zoe Saldaña, Selena Gomez, Adriana Paz und Karla Sofía Gascón gemeinsam den Preis für die beste Darstellerin.

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Als bester Darsteller wurde der Amerikaner Jesse Plemons für seine drei Rollen in „Kinds of Kindness“ von Yorgos Lanthimos geehrt. Der griechische Regisseur setzt damit eine eindrucksvolle Reihe fort: Seit 2009 wurde jeder seiner Filme in Cannes oder Venedig mit einem Preis geehrt. Anflüge von Nostalgie oder Verneigungen vor der Filmgeschichte schienen Gerwig und Co. nicht umzutreiben. Demi Moore, die zu Recht gefeiert wurde für die Rolle als alternde Hollywood-Ikone in „The Substance“, konnte ihr Comeback nicht mit einem Preis krönen. Übergangen wurden zudem „Megalopolis“ von Francis Ford Coppola sowie neue Werke von Paul Schrader und David Cronenberg.

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