Mannheim. Die Unterschrift stammt von Horst Seehofer. Ende 2020 unterzeichnet der damalige Bundesminister für Inneres, Bauen und Heimat eine Urkunde; sie ehrt den Sieger im Bundeswettbewerb „Lebendige Nachbarschaft, gelebte Nachhaltigkeit“ des Verbandes Wohneigentum (früher Deutscher Siedlerbund): die BASF-Siedlergemeinschaft im kleinen Mannheimer Ortsteil Rheinau-Süd.
Wegen Corona wird dieser Erfolg erst jetzt, an diesem Wochenende, gefeiert – mit dem 90. Jubiläum des Quartiers. Anlass für einen Rückblick zu den Anfängen in einer düsteren Zeit.
Man schreibt das Jahr 1933, als 154 Doppelhäuser entstehen, eben die „IG-Siedlung“. Denn Bauherr ist die IG Farben, die heutige BASF. Ihr Ziel ist es, durch Wohnraum qualifizierte Fachkräfte an sich zu binden. Als Standort für ihr Bauprojekt wählt sie auf der gegenüberliegenden Rheinseite südlich von Mannheim ein firmeneigenes Gelände von 167 000 Quadratmetern, das damals auf der Gemarkung Brühl liegt.
Das Konzept: Die Beschäftigten werden für die Bauarbeiten, etwa ein halbes Jahr, beurlaubt, erhalten in dieser Zeit Arbeitslosenunterstützung, während das Werk an ihrer Stelle Arbeitslose einstellt. Industrie und Staat arbeiten somit eng zusammen, um zwei soziale Ziele des Regimes zu erreichen: Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot zu beseitigen.
Erst nach dem Bau werden Häuser verlost
Am 1. Juli 1933 beginnen die Arbeiten. Es entstehen Doppelhäuser, die also eine gemeinsame Wand aufweisen. Das spart Baukosten, dient aber auch der sozialen Kontrolle – dank der Hellhörigkeit der Räume (von der noch manche der heutigen Besitzer ein Lied singen können).
Die Keller werden mit T-Trägern aus ausrangierten Eisenbahnschienen errichtet, der Deckenputz in den Zimmern „auf Lattung und Rohrung ausgeführt“, wie das in Handwerkersprache heißt: Zunächst wird ein Gebälk aus Holzbalken hergestellt, danach als Querstreben Dachlatten hinzugefügt und darauf eine Rohrmatte genagelt, die von oben mit Sand verfüllt und durch Holzbohlen nach oben abgeschlossen wird.
Jedes Haus verfügt über vier Geschosse: den Keller, im Erdgeschoss die Wohnküche und einen weiteren, 20 Quadratmeter großen Raum, der damals als Schlafzimmer vorgesehen ist, im ersten Obergeschoss zwei weitere Räume, sowie das Dachgeschoss, das mit einer Klappleiter erschlossen wird. Für die Menschen damals ein wahrer Sechser im Lotto.
Außen befindet sich ein Verschlag zur Kleinviehhaltung und eine große Freifläche zum Gemüseanbau – dies mit dem Ziel autarker Lebensmittelversorgung im Falle eines Krieges, der vom Regime bereits geplant ist.
Alle 154 Gebäude werden identisch gebaut und erst nach ihrer Fertigstellung unter den 154 Familien verlost. Damit soll sichergestellt werden, dass jedes mit der gleichen Sorgfalt errichtet wird, wissen die Bauenden doch nicht, welches sie dereinst bewohnen. Bereits am 26. August 1933 werden die ersten sechs Doppelhäuser bezogen – sieben Monate nach der NS-Machtergreifung.
Und dieses Regime ist spürbar, schon in den Straßennamen: Geehrt werden Theodor Leutwein, Adolf Lüderitz, Gustav Nachtigal, Protagonisten von Kolonialismus und Rassismus, denen sich die Machthaber eng verbunden fühlen. Erst 2022 beschließt der Gemeinderat der Stadt Mannheim, diese Namen zu tilgen; die neuen sollen 2024 feststehen.
Zentrum des Widerstands gegen die Nazis
Auch die Schule, zu der 1936 an der Ecke Lüderitz-/Nachtigal-Straße der Grundstein gelegt wird und die heute ein privates Wohnhaus ist, erhält den Namen eines „alten Kämpfers“ des Nationalsozialismus: des ein Jahr zuvor gestorbenen Hans Schemm, Gauleiter von Oberfranken, Führer des NS-Lehrerbundes.
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Dennoch ist gerade die Gegend um die IG-Siedlung ein Zentrum des Widerstandes gegen das NS-Regime in Mannheim. Sein Kopf ist Christian Kyri aus der Münchwälder Straße direkt am Rande der Siedlung. Mit seinem Sohn Fritz verteilt er Flugblätter gegen die Nazis, fliegt jedoch auf, wird verhaftet und zu sechs Monaten Zuchthaus verurteilt.
Aber auch Ursiedler werden Ziel der Repression. So wie Kunstschlosser Robert Ruprecht, Gemeindevorsteher der Sieben-Tages-Adventisten ist, einer Religionsgemeinschaft, die streng nach den Zehn Geboten lebt, darunter auch „Du sollst nicht töten“, also den Dienst im Militär ablehnt. Und die daher vom Regime bald verboten wird. Nach einem Treffen in seinem Haus Leutweinstraße 89 wird Ruprecht verhaftet, zu sieben Monaten Haft verurteilt, seine Frau zu sechs Wochen – obwohl die beiden neun Kinder haben.
Inmitten des Zweiten Weltkrieges kommt es zu einem skurrilen Vorgang: 1943 vereinbaren Brühl und Mannheim die Eingliederung der gesamten Gemeinde in die Quadratestadt. Doch die Landesbehörden lehnen dies ab, erlauben lediglich die Einverleibung des Ortsteils Rohrhof, die am 1. April 1944 erfolgt.
Die Entscheidung führt zu Streit innerhalb der NSDAP. Untere Parteichargen begehren in einem Maße auf, wie man es für diese Führerpartei nicht für möglich halten würde. Brühls Ortsgruppenleiter schreibt an seinen Kreisleiter: „Die gesamte Bevölkerung sieht in dieser Maßnahme eine große Ungerechtigkeit.“ Gemeinderäte und Beigeordnete der Gemeinde treten aus Protest zurück.
Gemeinde Brühl fordert Flächen zurück
Gleich nach Kriegsende trachten die Brühler erneut danach, diesen Verlust zu revidieren, argumentieren clever, dass es sich dabei ja um eine Zwangsmaßnahme der Nazis gehandelt habe. Mit Erfolg: Mit Wirkung vom 1. April 1950 kehren 112 Hektar zu Brühl zurück, die IG-Siedlung bleibt aber bei Mannheim.
Hier beginnt das Alltagsleben von Neuem. Herzstück werden die großen Siedlerfeste, 1952 das noch heute bestehende Siedlerheim. Im gleichen Jahr gründet sich auch ein Fußballverein, der Sportclub Rot-Weiß. Auch sonst wächst die Infrastruktur: 1954 entsteht die katholische Kirche St. Johannes, 1965 die evangelische Martinskirche, bereits 1962 die neue Gerhart-Hauptmann-Schule.
Ein attraktives Wohngebiet in Mannheim
Auch die Infrastruktur innerhalb der Siedlung wird endlich modernisiert: 1969 beginnt der Bau einer Kanalisation, welche die Jauchegruben ablöst, erst 1987 gar die Verlegung der Stromversorgung von Freileitungen auf Dachständern unter die Erde. Die Grundstücke, ursprünglich ja 1000 Quadratmeter groß, dürfen nun geteilt und auch im hinteren Bereich mit Häusern bebaut werden. 1990 entfällt für diese die Pflicht zum Flachdach. Die alte Siedlung wird ein hochattraktives Wohngebiet.
Doch nicht nur sie. Da die Quadratestadt bei der Gemeindereform Ende der 1960er Jahre leer ausgeht, kein Umland hinzubekommt, entdeckt Mannheims Stadtplanung das kaum besiedelte Rheinau-Süd. 1979 erfolgt die erste Erweiterung durch 122 Häuser der Firma Coplan in Richtung Hafen.
Bekannter See entsteht aus Baggerloch
In den 80er Jahren folgen 15 neue Straßen am Rheinauer See; dieser entsteht 1982 aus einem Baggerloch der Firma Schweikert und wird mit seiner weithin bekannten Wasserskianlage zum Herzstück eines Naherholungsgebietes.
Am Marktplatz entwickelt sich ein lebendiges Zentrum: Dort befinden sich Bäckerei und Post, Sparkasse und Volksbank, Apotheke und Arztpraxen. 1987 errichtet die katholische Kirche hier ein Gemeindezentrum als Ersatz für die Kapelle, die der neuen Verkehrsführung weicht.
Doch seit der Jahrtausendwende bricht die Infrastruktur ein: 2012 verschwindet der Supermarkt an der Rohrhofer Straße, seit 2018 gibt es keine Poststelle mehr, 2023 schließt nach Jahrzehnten die Metzgerei, die zwei Geldinstitute haben nur noch an bestimmten Tagen geöffnet.
Es bleibt – neben dem Sport-Club und desen Anlage am See – die Siedlergemeinschaft mit ihrem Siedlerheim und ihren Veranstaltungen wie dem Weihnachtsmarkt, dessen Erlös alljährlich einem karitativen Zweck zufließt. Und eben alle fünf Jahre – wie jetzt – das Siedlerfest.
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