Steffen Ratzel steht auf der Terrasse des Kurhauses in Baden-Baden. Er zeigt auf den Kurpark, die drei nahen historischen Nobelhotels und das ehemalige großherzogliche Schloss am Berghang. Diese wunderbare Location ist Ratzels Arbeitsplatz. Seit acht Jahren ist der Mannheimer in Baden-Baden Chef der Bäder- und Kurverwaltung, also das, was man einst Kurdirektor nannte. Das zu Ende gehende Jahr ist für ihn ein besonderes: 2024 feierte das Kurhaus Baden-Baden den 200. Geburtstag.
Doch die Wurzeln reichen tiefer. Schon die Römer schätzen die Heilquellen, die in barocker Zeit wiederentdeckt werden. 1766 wird zur Zerstreuung der Besucher dort, wo heute der linke Kurhaus-Trakt steht, das „Promenadenhaus“ errichtet – für Bälle, Konzerte und bereits Glücksspiel, noch „Hazardspiel“ genannt.
Schon damals jedoch steht das Haus in Konkurrenz zum ewigen Rivalen Wiesbaden, wo 1810 ein neues Kurhaus errichtet wird. Baden muss nachziehen. „Seine Königliche Hoheit, der Großherzog, haben gnädigst zu resolvieren geruht, dass ein neues Gebäude erbaut werden soll“, heißt es am 11. September 1821 – die Geburtsurkunde des Kurhauses.
Die Planung übernimmt Badens Chefbaumeister Friedrich Weinbrenner. Im Zentrum ein Saal, heute nach ihm benannt, am Eingang mit acht korinthischen Säulen, links der Gastroflügel, rechts das Theater für 600 Besucher. Im Kurpark ein von Arkaden umringter Pavillon für 26 Verkaufsstände. Die Baukosten belaufen sich nach heutiger Kaufkraft auf etwa 1,6 Millionen Euro.
Die ersten Pächter des Hauses sind Franzosen
Am 1. Juli 1824 wird Eröffnung gefeiert. Erster Pächter des Hauses wird der Franzose Chabert, der auch an Spielbanken in Wiesbaden und Bad Ems beteiligt ist. Die Pacht ist erheblich: 29 000 Gulden, heute fast eine halbe Million Euro – was andeutet, wie viel Geld das Casino umsetzt.
Doch das Hazardspiel ist streng geregelt, nur außerhalb der hohen kirchlichen Weihnachts- und Oster-Feiertage, also von 1. Mai bis 31. Oktober gestattet, an Sonntagen erst nach den Gottesdiensten. Gespielt werden Roulette und Rouge et Noir, der Höchsteinsatz beträgt 6000 Franken (etwa 45 000 Euro). Bauern, Dienstboten und Handwerksburschen ist der Zutritt nicht gestattet.
In Paris wird das Glücksspiel 1837 verboten, Jean-Jacques Benazet, der an der Seine zehn Casinos betreibt, braucht also einen neuen Standort, will daher auf die rechte Rheinseite. Das passt: Chaberts Pachtvertrag läuft aus. Benazet wird sein Nachfolger – für umgerechnet 2,4 Millionen Euro Pacht im Jahr.
Für beide Seiten eine Win-win-Situation. Benazet investiert kräftig, so baut er 1842 die Trinkhalle. „Sie haben mein Schloss in Karlsruhe übertroffen“, lobt der Großherzog. Und Benazet antwortet selbstbewusst: „Ich empfange das ganze Europa!“
Infos und Tipps zum Kurhaus Baden-Baden
Kurhaus: Eigentümer ist das Land Baden-Württemberg, Betreiber die Bäder- und Kurverwaltung (BKV), Geschäftsführer Steffen Ratzel.
Räumlichkeiten: Acht unterschiedlich große Veranstaltungsstätten. Größte: Benazet-Saal, fertiggestellt 1917, 1240 Sitz- oder 2050 Stehplätze; ältester Saal: Weinbrenner-Saal, im Kern von 1824, mit 524 kg schwerem Kronleuchter, 500 Sitzplätze.
Aktivitäten: Das Kurhaus ist an 364 Tagen geöffnet, nur nicht an Heiligabend. Zu mieten für Tagungen, aber auch von Privatpersonen für Hochzeiten oder Geburtstage etc. Zudem Konzerte und festliche Events. Insgesamt 340 Veranstaltungen pro Jahr mit insgesamt 120 000 Besuchern.
Casino: Ausstattung im Stile der Schlösser Versailles und Fontainebleau. Gespielt wird: Roulette, Poker und Blackjack, in separatem Raum auch an Spielautomaten. Jackett ist vorgeschrieben (und kann, falls nicht vorhanden, ausgeliehen werden). Krawattenzwang besteht nicht mehr.
Gastronomie: „Hectors“ mit regionaler und internationaler Küche; Eisspezialitäten aus eigener Produktion ebenso wie Pralinen und „Kurhaus-Kastanien“; „Heritage Bar & Lounge“ mit Blick auf den Kurgarten.
Kurgarten: Attraktion: sechs historische Kandelaber, mit Gas betrieben und jeden Abend händisch entfacht.
Events im Kurgarten: Weihnachtsmarkt (600 000 Besucher), Oldtimer Meeting, SWR 3 New Pop Festival, Konzerte in der Konzertmuschel.
Buch: „Das Kurhaus Baden-Baden im Wandel der Zeit 1824-2024“ von Patricia Peschel, 175 Seiten, Verlag Schnell+Steiner, 16,95 Euro. -tin
Benazet stirbt 1848, sein Sohn übernimmt. Und muss gleich eine Herausforderung bewältigen: die 1848er Revolution. Doch die scheitert und das Machtgefüge bleibt, wie es ist. Die Monarchen kommen weiter, 1852 gar der französische Kaiser Napoleon III., überhaupt viele Franzosen, weshalb man Baden-Baden den „Vorort von Paris“ nennt, aber auch schon damals viele Russen.
Der Dichter Dostojewski muss sogar seinen Ehering verpfänden, verfällt der Spielsucht und verarbeitet sie in seinem Roman „Der Spieler“. Überhaupt gibt es auch negative Begleiterscheinungen. 1855 erschießt sich hinter dem Kurhaus ein 60-jähriger Franzose, weil er so viel verliert, dass er die Bahnfahrt nach Hause nicht mehr bezahlen kann. Glücksritter, Kriminelle und Prostitutierte zieht es in die Stadt. Und für die ganz normalen Leute werden durch die Anwesenheit des großen Geldes ihre Lebenshaltungskosten unerschwinglich. Die Stadt Baden-Baden aber profitiert durch die Steuern der Spielbank; 1871 erreichen die Einnahmen im Casino umgerechnet 36 Millionen Euro.
Dennoch setzt die Politik dem ein Ende. 1871 wird Baden Teil des neu geschaffenen Deutschen Reiches. Die Führungsmacht Preußen verbietet das Glücksspiel. Die Gründe sind vielfältig: Casinos widerstreben dem biedermeierschen Zeitgeist, sind zudem französisch geprägt. Doch Frankreich gilt, erst recht seit 1871, als Deutschlands Erzfeind.
Am 31. Oktober 1872 kurz vor Mitternacht rollt in Baden-Baden die vorerst letzte Kugel – beim Roulette, auf Nummer 9. Musiker und Croupiers wechseln nach Monte Carlo.
Für das Kurhaus, aber auch für die ganze Stadt, ist das Aus des Casinos eine ökonomische Katastrophe. Die Verluste müssen kompensiert werden. So wird nun das Unterhaltungsangebot ausgebaut. 1872 kann Walzerkönig Johann Strauß für mehrere Konzerte gewonnen werden.
Zudem besinnt sich Baden-Baden auf seine Wurzeln als Bäderstadt. 1877 wird das Friedrichsbad eröffnet, damals das modernste Thermalbad Europas. Am Hang des Schlossberges erhebt sich der 65 mal 50 Meter große Bau im Renaissancestil auf drei Stockwerken, im Inneren eine von korinthischen Säulen geprägte Halle mit 17 Meter hoher Kuppel und Becken aus Marmor.
Auch das Kurhaus wird den geänderten Bedürfnissen angepasst und ab 1912 erweitert. Dabei entstehen das neue Restaurant und die sechs Meter breite Freitreppe. Die Einweihung erfolgt – kein idealer Zeitpunkt – inmitten des Ersten Weltkrieges. Doch auch den übersteht das Haus.
1933 sind die Nazis an der Macht. In Baden-Baden sieht man die Chance, das Glücksspielverbot aufzuheben. Als Hitler auf der Bühlerhöhe logiert, sprechen die Stadtväter bei ihm vor. Mit Erfolg. Am 3. Oktober 1933 öffnet das Casino wieder. Die erste Kugel wirft der Apotheker Dr. Rößer, bereits beim letzten Spiel vor dem Verbot 1872 dabei. Eine Ausnahme: Denn Eintritt haben damals nur Auswärtige, die Bürger Baden-Badens nicht. Trotzdem floriert der Laden. 144 Croupiers sind im Dienst – bis August 1944, als der eskalierende Krieg dem ein Ende setzt.
Den Krieg übersteht das Kurhaus unbeschadet
Den überstehen das Kurhaus und die Stadt als Ganzes bis 1945 unbeschadet. Das Haus wird von der französischen Besatzungsmacht requiriert, das Restaurant zum Offizierscasino. Das Nachbargebäude in der Werderstraße überlassen die Franzosen 1947 als Gebetssaal der neu entstehenden Jüdischen Gemeinde, deren Synagoge in der Innenstadt seit dem Pogrom 1938 zerstört ist.
Am 1. April 1950 wird das Casino wieder eröffnet. Unternehmer- und Millionärsgattin Unna Haniel von Rauch wirft die erste Kugel, Stargast ist der Ufa-Star Lilian Harvey. Unter den späteren Besuchern sind der unrühmliche englische Ex-König Edward und seine Wallis oder Filmdiva Marlene Dietrich, für die das hiesige Casino „das schönste Europas“ ist.
Das Kurhaus knüpft an die Tradition als Ort hochrangiger Treffen an – in Sport, Kultur oder Politik. Seit Jahrzehnten bereits werden hier die Sportler des Jahres gekürt, 1981 ist das IOC zu Gast, 2009 der Gipfel zum 60. Jubiläum der Nato mit US-Präsident Obama, 2017 das Treffen der G-20-Finanzminister. Der deutsche Ressortchef Wolfgang Schäuble, im nahen Offenburg zu Hause, setzt den Ort gegen Skepsis seiner Beamten durch, die eine Großstadt bevorzugen. Am Ende sind alle von der angenehmen Atmosphäre begeistert.
Doch dann Corona: Das Kurhaus bleibt – mit Unterbrechungen – von März 2020 bis ins Jahr 2021 zu. Als der Impfstoff da ist, hat Steffen Ratzel die Idee, ein Impfzentrum einzurichten – auch, um die Mitarbeiter zu beschäftigen und damit zu halten. Der große Saal wird zum „schönsten Impfzentrum Deutschlands“, wie die FAZ formuliert. An 247 Tagen werden 100 000 Menschen geimpft, lernen das Haus dadurch kennen, überwinden somit die bei manchen ja bestehende Hemmschwelle Kurhaus. „Trotzdem“, so fügt Ratzel an, „brauche ich so was nicht wieder.“
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