Barcelona. Für die einen erinnert der Bau in seinen Formen und Farben an Disneyland. Für die anderen ist er die gelungene moderne Version des Menschentraums von einem dem Himmel entgegen strebendem Gotteshaus. Doch ganz gleich, welcher Meinung man zuneigt: Die Sagrada Familia in Barcelona ist ein besonderes Bauwerk: Seit 142 Jahren in Arbeit und immer noch nicht fertig, privat initiiert und finanziert, auch und gerade als Baustelle Attraktion für Millionen.
Die Idee zu diesem Jahrhundertprojekt stammt von einem katholischen Buchhändler Barcelonas: Beeindruckt von den großen Kirchen in Italien, beschließt Josep Maria Bocabella 1874, eine solche auch in seiner Heimatstadt zu errichten. Er gründet einen Verein, sammelt Spenden, dank derer er bereits 1881 das nötige Grundstück erwerben kann: 12 800 Quadratmeter in noch unbebauter Umgebung in der Gemeinde San Martin de Provensals; erst 1897 wird diese nach Barcelona eingemeindet, in dessen Zentrum sie heute liegt.
Die Planung übernimmt der Architekt des Erzbischofs, Francisco de Villar. Dieser entwirft eine Kirche im damals üblichen neugotischen Stil. Am 19. März 1882 erfolgt die Grundsteinlegung. Mit dabei ist ein junger Mann, für den dieses Bauwerk zum Schicksal werden sollte: Antoni Gaudi, Mitarbeiter des Statikers.
Seine große Stunde kommt nur ein Jahr darauf durch das Zerwürfnis zwischen Architekt und Statiker. Niemand will das „heiße Eisen“ fortführen. Gaudi, damals 31 Jahre jung, traut sich und übernimmt 1883 die Bauleitung. Den bereits laufenden Bau der Krypta setzt er fort und beendet ihn 1889. Doch was den Rest betrifft, so krempelt er Villars Pläne komplett um: Aus der neugotischen wird eine naturalistische Gestaltung.
Architekt Gaudi drückt dem Bauwerk seinen Stempel auf
Nichts ändern kann Gaudi, da die Fundamente bereits liegen, am Grundriss: Die Sagrada Familia hat also den klassischen eines Kreuzes. Das Langhaus ist 90 Meter lang und 45 Meter breit, das Querhaus 60 Meter lang und 30 Meter breit. Nach Osten, zum Sonnenaufgang, liegt die „Geburtsfassade“, die Geburt und Leben Christi darstellt, nach Westen, zum Sonnenuntergang, die „Passionsfassade“ über sein Sterben. In den Himmel ragen sollen 18 Türme, von denen zwölf den Aposteln gewidmet sind – gemäß damaliger Sicht auf diesen übrigens nicht für den „Verräter“ Judas, sondern stattdessen seinen Nachfolger Matthias.
Sind schon die Maße beeindruckend, so erhält das Bauwerk seine Besonderheit durch den Stempel, den Gaudi ihm aufdrückt: Die Gotik hält er für unvollkommen, da ihre geraden Formen mit dem System aus Säulen und Strebepfeilern, die er als „Krücken“ bezeichnet, nicht den Naturgesetzen entsprechen. Gaudis Vorbild sind die organischen Formen von Flora und Fauna, Schilf und Bäumen. Seine Säulen sind schräg gemauerte Stützen, der Innenraum der Kirche ähnelt einem Wald.
Infos und Tipps
- Anreise: Entfernung Mannheim- Barcelona 1000 km, Autofahrstrecke 1300 km, Fahrzeit zwölf Stunden; Zugstrecke Mannheim-Barcelona über Paris, Fahrzeit zehn Stunden.
- Übernachten: 4-Sterne-Hotel „Duquessa“, gelegen an der Uferpromenade und trotzdem nahe der Altstadt, Dachterrasse, DZmF (Blick auf die Promenade) ca. 350 Euro.
- Sehenswürdigkeiten: Kolumbus-Denkmal mit Aussichtsplattform in 60 Metern Höhe mit Blick über die Stadt; Wohnblock Casa Mila, erbaut 1906-12, geplant von Antoni Gaudi.
- „Sagrada Familia“: im Zentrum Barcelonas, Plaça de la Sagrada Familia, Metrostation Sagrada Familia.
- Besichtigung: im Winter 9 bis 18 Uhr, im Sommer bis 20 Uhr. Die markanten Türme kann man (sofern man schwindelfrei ist) auf einer Wendeltreppe erreichen oder mit dem Fahrstuhl (gegen Aufschlag auf den regulären Eintrittspreis).
- Tickets: verschiedene Kategorien: einfach (26 Euro), mit Führung (30 Euro), mit Turmbesteigung (36 Euro) oder in Kombination mit anderen Gaudi-Bauten. Um Warten zu vermeiden: vorher online buchen (https://sagradafamilia.org/en/).
- Gottesdienst: jeden Sonntag 9 Uhr im Mittelschiff, in der Krypta zwei Mal täglich (einer auf Spanisch und einer auf Katalanisch, der Regionalsprache in Barcelona).
- Museum zur Baugeschichte und zur Person Gaudis: zur Rechten der Kirche, u. a. mit Nachbau von Gaudis früherer Werkstatt und einem Einblick in die heutige Dombaustätte.
- Weitere Infos im Internet unter: www.sagradafamilia.org -tin
43 Jahre seines Lebens widmet Gaudi der Kathedrale, die letzten acht Monate haust er sogar vor Ort. Doch auch ihm ist bewusst, dass er wie die mittelalterlichen Baumeister die Fertigstellung nicht erleben wird. „Mein Kunde hat keine Eile“, spielt er an auf Gott. Um den Weiterbau auch nach seinem Tode zu sichern, arbeitet er vertikal statt horizontal. Das heißt: Die einzelnen Gebäudeteile werden nacheinander gebaut. Wenn fertige Teile stehen, so seine Überzeugung, wird es schwerer, den Weiterbau des Ganzen zu stoppen.
Er behält Recht. 1926 stirbt Gaudi, wie so manche Genies auf tragische Weise: Er wird von einer Straßenbahn angefahren und bleibt bewusstlos auf der Straße liegen. Er hat keinen Ausweis bei sich, wirkt wegen seines Eremitenlebens in der Kirche äußerlich verwahrlost, wird für einen Bettler gehalten und nicht versorgt. Erst nach einigen Stunden lässt ihn ein Polizist mit dem Taxi in ein Armenhospital bringen. Dort finden ihn drei Tage später sein engster Mitarbeiter Domènec Sugrañes und der Kaplan der Sagrada Família. Einige Tage danach ist er tot. In „seiner“ Kirche findet er die letzte Ruhe.
Zu dem Zeitpunkt sind die Krypta, die Apsis, aber nur einer der 18 Türme fertig, die Geburtsfassade erst noch im Bau. Domènec Sugrañes übernimmt die Bauleitung und stellt die Geburtsfassade 1935 fertig.
Kurz vor einer Katastrophe. 1936 bricht in Spanien der Bürgerkrieg aus. Gegen die demokratische Regierung erheben sich die Faschisten unter General Franco, unterstützt von der katholischen Kirche. Die wird dadurch zum Gegner der Republikaner. Am 21. Juli 1936 stürmen diese die Basilika, töten den Pfarrer, schänden das Grab des Initiators, setzen die Baustelle in Brand, damit auch die Baupläne. Nur zerschlagene Teile der Gipsmodelle und Fotos können gerettet werden. Sie sind nach dem Bürgerkrieg Basis für den Weiterbau. Die Scherben der Modelle werden zusammengesetzt und daraus Pläne gefertigt – umgekehrt zum üblichen Vorgehen. Frühere Mitarbeiter Gaudis versuchen aus der Erinnerung, die Gedankengänge ihres Meisters zu rekonstruieren. Am 30. Juni 1948 werden die Arbeiten wieder aufgenommen. 1956 beginnt der Bau der Passionsfassade.
In der Fachwelt stößt das Projekt auf Ablehnung. 1964 initiiert ein örtlicher Architekt gegen die „Abnormalitäten“ eine Unterschriftenaktion, der sich internationale Koryphäen wie Le Corbusier und Walter Gropius anschließen. Erst spät ändert sich die Sicht auf Gaudi und den Bau. 2011 bekennt einer der Unterzeichner, der Architekt Oscar Tusquets: „Wie konnten wir so falsch liegen?“
Folgen hat die Petition damals ohnehin nicht, denn hinter der Kirche steht Diktator Franco. Ein Jahr nach dessen Tod, 1976, wird die Passionsfassade fertiggestellt. 1986 beginnt der katalanische Bildhauer Josep Maria Subirachs mit ihrer künstlerischen Ausgestaltung, die 20 Jahre andauert. Das Ergebnis sorgt 2006 für heftige Kritik: Im Gegensatz zur eher traditionell gestalteten Geburtsfassade weist sie kaum Verzierungen auf, dafür schmucklose, fast geometrische Linien der Figuren.
2010 wird der Innenraum fertig und durch Papst Benedikt XVI. geweiht. 70 Prozent des Bauwerks sind nun fertig, jedoch erst acht der 18 Türme. Die Vollendung ist für 2026 geplant: Gaudis 100. Todesjahr.
2018 kommt es zu einer ersten Verzögerung. Die Genehmigung für den Bau hat 1881 die Gemeinde San Martin de Provensals erteilt. Bei der Eingemeindung nach Barcelona 1897 wurde diese nicht erneuert – aus Sicht der Stadt ist die Kirche nun ein Schwarzbau. Es kommt zum Streit, aber zum Kompromiss: Die Bauherren zahlen der Stadt 36 Millionen Euro – als Kompensation für die Belastung der Nachbarschaft.
Corona wirft den Zeitplan komplett über den Haufen
Dramatischer wirkt sich Corona aus. Besucherzahlen und Einnahmen brechen ein. Im März 2020 wird die Kathedrale komplett geschlossen, im Herbst das Jahr 2026 als Datum der Fertigstellung offiziell aufgegeben. Neuer Termin: 2033.
Doch das Projekt übersteht auch Corona: 2022 werden sogar 3,8 Millionen Besucher gezählt, mehr als drei Mal so viele wie im Vorjahr – damit ist die Kirche meistbesuchte Attraktion Spaniens noch vor dem Prado. Wichtig, denn die Eintrittsgelder tragen nach wie vor neben Spenden die Kosten, die um die 20 Millionen Euro jährlich betragen, bis zur Fertigstellung 2033 rund 400 Millionen.
Die Arbeiten gehen derweil weiter. Am 29. November 2021 wird der zweithöchste der 18 geplanten Türme, der Marienturm, installiert, an seiner Spitze ein markanter zwölfzackiger Stern. 2026 soll der zentrale Turm folgen, Christus gewidmet: Mit 172,50 Metern wird er das Ulmer Münster um elf Meter überragen, damit höchster Kirchturm der Welt. Dennoch haben sich die Bauherren dabei beschränkt: Die Kirche soll nicht höher sein als die umliegenden Berge, Menschenwerk nicht größer sein als die Natur, das Werk Gottes.
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