Mannheim. Aufgeregt reist Guillaume Carrère in diesen Tagen öfter aus Paris nach Mannheim. Denn ein großer Schritt steht an: Carrère will mit seiner Firma Doctrine nach Deutschland expandieren. Sogar die französischen Zeitungen berichten davon. „Doctrine macht dem deutschen Markt schöne Augen“, titelt das Finanzblatt „Les Échos“. Die schönen Augen richten sich speziell an dejure.org aus Mannheim.
dejure.org gehört zu den meistgenutzten juristischen Diensten
Das Informationsportal zählt mit rund zehn Millionen Zugriffen pro Monat nach eigenen Angaben zu den meistgenutzten juristischen Diensten in Deutschland. Bürgerliches Gesetzbuch, Strafprozessordnung, Umsatzsteuergesetz … dejure.org umfasst eine Datenbank mit rund 300 Gesetzen. Dazu eine täglich erweiterte Rechtsprechungsdatenbank mit mehr als zwei Millionen Gerichtsentscheidungen. Ein Paradies für Juristinnen und Juristen. Und vielversprechend für Legal Tech.
Legal Tech steht für Legal Technology. Moderne Technologien sollen helfen, juristische Arbeitsabläufe zu automatisieren und effizienter zu machen – beispielsweise in sekundenschnelle rechtliche Dokumente auszulesen oder Präzedenzfälle zu finden. Dazu gehört vor allem Künstliche Intelligenz, also Legal KI (oder englisch Legal AI). Hier kommt Doctrine ins Spiel.
Doctrine und dejure.org
Doctrine ist nach eigenen Angaben Europas führende KI-Plattform in Bezug auf Recht. Sie nutzt künstliche Intelligenz, um Juristen zu unterstützen – bei der Analyse, der Recherche und dem Verfassen von Texten. Das Unternehmen mit Sitz in Paris beschäftigt 180 Menschen.
dejure.org aus Mannheim bezeichnet sich als „führenden Informationsanbieter für deutsches Recht“. Die Plattform gibt es seit 25 Jahren, sie hat nach eigenen Angaben monatlich zehn Millionen Seitenaufrufe . In der Geschäftsführung sitzen Oliver García und Rechtsanwalt Alfons Schulze-Hagen aus der Mannheimer Kanzlei Schulze-Hagen, Horschitz und Hauser.
Doctrine sieht sich bei Legal KI sogar führend in Europa. Die KI soll mit der Rechtsdatenbank von dejure.org zusammengebracht werden und Juristen in Deutschland „eine noch nie dagewesene Leistung bieten“, sagt Guillaume Carrère, Chef von Doctrine, selbstbewusst.
Das französische Unternehmen spricht von einer „strategischen Beteiligung“ an dejure.org – mit der Perspektive auf eine mögliche vollständige Übernahme. Wie viel Geld Doctrine dafür in die Hand nimmt, mag Carrère nicht verraten.
dejure.org-Chef Oliver García: Anwälte erwarten jetzt praktische Lösungen
In Mannheim ist man jedenfalls in freudiger Erwartung. „Nach all den Vorschusslorbeeren auf KI erwarten Anwälte jetzt praktische Lösungen, die sich perfekt in ihre Arbeitsabläufe einfügen“, sagt Oliver García, Geschäftsführer von dejure.org. In die Partnerschaft mit Doctrine würden nicht nur die eigenen Datenbanken eingebracht, „sondern auch unser Wissen über juristisches Publizieren und Legal Tech in Deutschland“.
Der Markt für Legal KI boomt. Anwaltskanzleien und Rechtsabteilungen stünden vor der Herausforderung, große Daten- und Dokumentenmengen zu verwalten, heißt es in einer Studie der US-Unternehmensberatung Grand View Research. Folglich steige die Nachfrage „nach Automatisierung in Rechtsanwendungen“. Die Zusammenarbeit zwischen Anwaltskanzleien, Technologieunternehmen und akademischen Einrichtungen trieben die Innovation in diesem Markt voran. Grand View Research geht davon aus, dass der Markt für juristische KI in Europa bis zum Jahr 2030 „beträchtliche, durchschnittliche jährliche Wachstumraten von 17 Prozent“ haben wird.
Von diesem Kuchen will Doctrine ein großes Stück abhaben. Mit der Einführung neuer, auf KI basierender Produkte hat das Unternehmen im Jahr 2024 „ein profitables Rekordwachstum“ verzeichnet. Eine Entwicklung, die sich Anfang 2025 noch beschleunigt haben soll. Zahlen nennt Doctrine allerdings nicht. Das Unternehmen arbeite seit 2021 profitabel, heißt es nur.
Die Expansion nach Italien ist seit Kurzem erledigt, dort und in Frankreich sollen bereits 16.000 Juristen die Plattform einsetzen. Jetzt ist Deutschland dran.
Das Geschäft birgt allerdings auch Gefahren.
Sprache, Rechtssysteme, Dokumentenstruktur, Berufspraktiken – jedes Land hat seine lokalen Besonderheiten. Eine Einheits-Lösung für alle gibt es nicht. Die juristische KI sei so konzipiert, dass sie sich an rechtliche Rahmenbedingungen und Arbeitsmethoden der einzelnen Märkte anpasse, verspricht Doctrine.
Der Datenschutz muss gesichert sein. „Juristen arbeiten mit streng vertraulichen Informationen – und in Europa hat Datenschutz oberste Priorität. Die Rechts-KI von Doctrine wurde mit branchenführenden Sicherheitsstandards entwickelt“, erklärt Carrère. Sie sei nach der Norm ISO 27001 zertifiziert.
Im ungünstigen Fall halluziniert Künstliche Intelligenz, erfindet also irgendetwas. Wie bei einem Anwalt aus den USA, der sich im Mai 2023 mit Fake-Fällen aus ChatGPT vor einem Gericht in New York blamiert hatte. Carrère hebt hervor: Die Qualität der Daten sei entscheidend. Und genau das sieht er bei dejure.org erfüllt. Doctrine will seine KI mit der „umfassenden und zuverlässigen“ Rechtsdatenbank des Mannheimer Portals kombinieren.
Carrère sagt, Künstliche Intelligenz werde nie an die Stelle von Juristinnen und Juristen treten. Die menschliche Urteilskraft bleibe unersetzlich. Aber: KI könne helfen, wiederkehrende Aufgaben zu erledigen, sodass Anwälte etwa mehr Zeit haben, sich um Klienten zu kümmern. „Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Juristen die Chancen der Technologie nutzen“, ist der 41-Jährige überzeugt.
Die Teams von dejure.org und Doctrine arbeiten derzeit an der Integration der Plattformen; in den nächsten Monaten sollen die Doctrines erste KI-Tools auf dem deutschen Markt nutzbar sein. Doctrine hat bereits ein Ingenieur- und Produktteam für Deutschland am Start und plant den Aufbau von Vertrieb und Marketing. Noch in diesem Jahr soll das Team auf mehr als zehn Beschäftigte wachsen. Laut Carrère bleibt dejure.org weiterhin eigenständig in seinen Entscheidungen. Auch zum Standort Mannheim bekennt er sich klar.
Der Doctrine-Chef, der aus Gegend von Bordeaux stammt, findet Mannheim übrigens „sehr schön“. Im September steht der nächste Besuch an.
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