Inmitten der flirrenden, einzigartigen Dortmunder Fußball-Atmosphäre ließ sich Manuel Neuer nach dem Abpfiff noch einmal feiern. Erst winkte der deutsche Torhüter mit einem Lachen ins Publikum, bevor er die Arme in Form einer Flugzeuggeste ausstreckte und den EM-Hit „Major Tom“ mitsang. Ein Fußball-Land hebt ab - völlig losgelöst.
2:0 gegen Dänemark, nach acht langen Jahren wieder ein K.o.-Spiel gewonnen. Der Viertelfinaleinzug, mit einer Mischung aus großartigem Fußball, intakter Widerstandsfähigkeit und ordentlich VAR-Glück errungen, hat die Fans in der Republik nach einer Ära der Entfremdung endgültig mit ihrer Nationalmannschaft versöhnt.
„Wir haben was im Land ausgelöst. Wir spielen mit Euphorie, wir spielen mit Spaß“, sagte Verteidiger Nico Schlotterbeck, der bei seinem EM-Startelfdebüt im Stadion seines Vereins Borussia Dortmund bewies, warum er als der talentierteste deutsche Abwehrspieler seiner Generation gilt. Das vorentscheidende 2:0 durch Jamal Musiala (68.) leitete er mit einem genialisch gut platzierten weiten Schlag hinter die dänische Kette ein. Sein vermeintliches frühes 1:0 durch einen Kopfball wurde ihm zwar vom VAR wegen eines angeblichen Fouls von Joshua Kimmich (4.) wieder aberkannt, aber in seiner Kerndisziplin beeindruckte der 23-Jährige durch modernes Verteidigerspiel. Bis auf eine Szene voller Übermut, in der er im eigenen Strafraum zum Dribbling ansetzte und fast den Rückstand verschuldet hätte. Bruder Leichtfuß ist noch nicht ganz aus seiner DNA verschwunden.
Nagelsmann will sich nicht zum möglichen Gegner Spanien äußern
Sein Trainer Julian Nagelsmann lobte den Vertreter des gesperrten Jonathan Tah für eine „sehr gute Leistung“, deutete aber an, dass am Freitag (18 Uhr) im Viertelfinale gegen Spanien wieder Tah zum Zuge kommen dürfte.
Auch der Bundestrainer musste erst einmal ordnen, was bei diesem „skurrilen K.o.-Spiel“ alles passiert war. Eine furiose, druckvolle Anfangsphase der DFB-Elf (Nagelsmann: „Die besten 20 Minuten des Turniers“), dann eine gut 20-minütige Spielunterbrechung wegen eines heftigen Gewitters. Nach der Pause entschieden zwei Eingriffe des Videoassistenten eine wilde Partie zugunsten des EM-Gastgebers. Zunächst hatte Joachim Andersen für Dänemark getroffen (48.), was wegen einer minimalen Abseitsstellung von Thomas Delaney aber annulliert wurde. Und als eben jener Andersen vier Minuten später den Ball bei einer Flanke von David Raum an die Hand bekam, meldete sich der VAR erneut. Elfmeter für Deutschland, Kai Havertz verwandelte sicher (53.). Regelkonforme, aber ganz knappe Entscheidungen, über die sich die Dänen später aus verständlichen Gründen aufregten.
Der Bundestrainer will weniger Risikopässe sehen
Nagelsmann widmete sich derweil schnell der Analyse eines Auftritts, der sowohl das gewaltige Potenzial als auch die weiter existierenden Problemzonen seiner Mannschaft offenlegte. Eine Erkenntnis, die Rechtsverteidiger Kimmich prägnant auf den Punkt brachte: „Wir wissen, dass wir jeden schlagen können. Wir wissen aber auch, dass wir geschlagen werden können.“
Wenn es am Freitag tatsächlich zum Klassiker gegen den großen Turnierfavoriten Spanien gehen sollte, wird das DFB-Team mehr benötigen als 20 exzellente Minuten. „Wir müssen in Phasen, in denen wir nicht gleich ein Tor erzielen, geduldiger bleiben“, sagte Nagelsmann. Das Team habe sich „mit dem einen oder anderen Risikopass zu viel“ in der ersten Halbzeit selbst die Sicherheit genommen und die Dänen über schnelle Gegenstöße ins Spiel gelassen. Er plädiere dringend dafür, „sich den Gegner besser zurechtzulegen. Dann sind wir extrem schwer zu schlagen.“
Die psychologische Hypothek der schweren Enttäuschungen bei den vergangenen Turnieren hat die deutsche Auswahl am Samstagabend final beseitigt. „Ein Spiel mit solchen Widerständen zu gewinnen, das macht mich schon stolz. Die Jungs haben sich verdient, dass sie langsam die alte Festplatte gelöscht bekommen und merken, wie gut sie sind“, sagte Nagelsmann. Oder frei formuliert: Bei diesem Turnier ist jetzt alles möglich.
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