Berlin. Alfred Gislason wird genau hinschauen. Und zwar nicht nur auf das, was da an diesem Donnerstag (20.30 Uhr/live im ZDF) auf dem Feld der Kölner Lanxess-Arena passiert, sondern auch darauf, welche Kleidung seine Verwandten tragen. „Mein Vater, meine Brüder, mein Onkel. Alle sitzen da. Ich bin sehr gespannt, ob im Deutschland- oder Island-Trikot und auf welcher Seite sie stehen. Das werde ich diesmal sehr persönlich nehmen“, sagt der Isländer und grinst.
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Das erste Hauptrundenspiel der deutschen Nationalmannschaft bei der Heim-Europameisterschaft ist für den 64-Jährigen etwas „ganz Besonderes“. Was nicht weiter verwundert. Denn er startet die Mission Halbfinale ausgerechnet gegen Island - seine Heimat. „Seine erste“, wie Torwart Andreas Wolff zu wissen glaubt. Und womit er vermutlich richtig liegt. Denn seine Wurzeln vergisst man schließlich nicht, weshalb Gislason schon einmal ankündigt, beide Nationalhymnen zu singen.
Gislason: "Auch unter Freunden wil man gewinnen"
Mehr als die Hälfte seines Lebens hat der 64-jährige Handball-Fachmann mittlerweile in Deutschland verbracht. Er fühlt sich dieser Nation verbunden und lebt wahlweise zurückgezogen auf seinem umgebauten Bauernhof in Wendgräben bei Magdeburg oder in seiner Berliner Wohnung. Aber natürlich besucht er ebenso häufig seine Familie in Island, wo auch seine im Mai 2021 an Krebs gestorbene Frau Kara beerdigt ist. Doch wenn es um den Job geht, steht in diesem Fall das Handball-Herz ganz klar über der Handball-Heimat.
„Auch unter Freunden will man gewinnen. Oder innerhalb der Familie. Und ich werde alles dafür tun, dieses Spiel zu gewinnen“, verspricht der Bundestrainer: „Zwar bin ich Isländer, aber ich arbeite mit dieser Mannschaft.“ Einer Mannschaft, die er „liebe“, wie Gislason sagt. Keine Frage: Für einen wie ihn ist solch ein Satz eine Art Gefühlsausbruch. Denn eigentlich kennt man ihn nur kontrolliert oder sogar kühl - und natürlich als detailverliebten Trainer, der arbeitet und analysiert.
Ohne Punkt in die Hauptrunde
Noch in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch schnitt er Videos im Berliner Quartier des Deutschen Handballbundes (DHB), am Morgen machte sich der DHB-Tross dann von der Hauptstadt aus mit dem Zug auf den Weg in Richtung Köln, wo er von den „Roten Funken“, dem ältesten Traditionskorps des Kölner Karnevals, begrüßt wurde.
Auf der anderen Rheinseite und nur knapp zwei Kilometer vom Hauptbahnhof der Domstadt entfernt, wird die Mannschaft ab Donnerstag in der Lanxess-Arena gefordert sein. Nach der knappen 30:33-Niederlage zum Vorrundenabschluss gegen Olympiasieger Frankreich stehen die Deutschen ein wenig unter Druck, wenn sie den Halbfinaltraum verwirklichen wollen. Denn sie starten ohne einen einzigen Punkt in die Duelle mit Island, Österreich (Samstag, 20.30 Uhr/live in der ARD), Ungarn (Montag, 20.30 Uhr/live im ZDF) und Kroatien (Mittwoch, 20.30 Uhr/live in der ARD).
DHB-Team erwarten keine unlösbaren Aufgaben
„Jetzt haben wir vier Endspiele. Das ist so. Jede Niederlage bedeutet das Aus“, sagt Gislason im Wissen um die Zwänge. Theoretisch gibt es aber auch die eine oder andere Konstellation, bei der die Deutschen sogar noch mit zwei weiteren Minuspunkten weiterkommen können.
Doch auf derartige Rechenspiele will sich niemand einlassen. Zumal auf die DHB-Auswahl zwar schwierige Gegner, aber keine unlösbaren Aufgaben zukommen. Mit den Spaniern hat sich beispielsweise ein Dauer-Halbfinalist der vergangenen Jahre schon aus dem Turnier verabschiedet, stattdessen sind die Österreicher überraschend in der Hauptrunde dabei.
„Alle Mannschaften können sich gegenseitig schlagen“, sagt Gislason. Was im Umkehrschluss bedeutet: In keine einzige Partie gehen die Deutschen als Außenseiter, anders als bei der 30:33-Niederlage gegen Frankreich. Dem Olympiasieger begegneten die Deutschen zwar knapp 45 Minuten lang auf Augenhöhe, brauchten dafür aber eine überragende Torwartleistung von Wolff und sämtliche Leistungsträger fast ausnahmslos auf dem Feld.
Entscheidende Tage in Köln
Die Stammkräfte wie Juri Knorr, Julian Köster und Johannes Golla bekamen kaum Pausen und machten so lange weiter, bis sie nicht mehr konnten, bis ihnen die Kräfte ausgingen und sämtliche Energie aus ihren Körpern verschwand. So wie bei einem Gewichtheber, der die Langhantel einfach nicht mehr oben halten kann.
Gislason führt als Erklärung für die Niederlage deshalb auch nicht die fehlende Reife seiner immer noch jungen Mannschaft an, sondern die Kaderbreite: „Wir können nicht so viel wechseln wie die Franzosen. Bei denen hat fast jeder mehr als 100 Länderspiele.“
Gislason nicht nur als Trainer gefragt
Die Deutschen befinden sich also noch immer in einem Entwicklungsprozess, der einen Substanzverlust bei Auswechslungen beinhaltet. Was schon vor dem Turnier klar war. Und doch ist die Ausgangslage mit Blick auf die vier Hauptrundengegner nicht schlecht, hinzu kommen die fast 20 000 Fans - aber eben auch die gestiegenen Erwartungen.
Gislason wird in den Tagen von Köln, die auch über seine Zukunft beim DHB entscheiden, nicht nur als Trainer gefragt sein. Sondern genauso als derjenige, der ein wenig Druck wegnimmt. Und der im besten Fall mit einem Lächeln im Gesicht nach dem Island-Spiel schaut, in welchen Trikots seine Verwandten da auf der Tribüne sitzen.
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