Mannheim. Uwe, ein Blick ins Archiv hat mir gezeigt: 20 Profijahre, gefühlt 20 unterschiedliche Frisuren. Was können wir diesbezüglich noch von Ihnen erwarten?
Uwe Gensheimer (lacht): Es ist doch ganz lustig, dass es mit mir nicht langweilig war. Blonde Strähnen waren dabei, dann habe ich die Haare mal ein bisschen länger getragen. Es waren auch mal die Seiten abrasiert. Jetzt bin ich nicht mehr so experimentierfreudig. Die Geheimratsecken lassen aber auch nicht mehr so viel zu.
2016 haben die Löwen Sie schon einmal verabschiedet. Damals in Richtung Paris. Sie wissen also, was am Donnerstag (20.30 Uhr) gegen den SC Magdeburg bei Ihrem letzten Heimspiel auf Sie zukommt, oder?
Uwe Gensheimer: Natürlich habe ich mir Gedanken gemacht, wer über all die Jahre meine Karriere begleitet hat und wer vielleicht kommen wird. Aber im Endeffekt kann man sich auf so etwas nicht vorbereiten. Ich werde also versuchen, den Augenblick so zu genießen, wie er ist.
Die Mannheimer SAP Arena wird am Donnerstag fast ausverkauft sein. Die Fans wollen dann den Mann verabschieden, der in den 80er und 90er Jahren nicht weit entfernt von der damals noch gar nicht existierenden Heimspielstätte der Rhein-Neckar Löwen aufwächst. Gensheimer wird am 26. Oktober 1986 in Mannheim geboren. Er spielt zunächst Handball beim TV Friedrichsfeld, dem Verein seiner Eltern Marcela und Dieter. Gerne erinnert sich der 37-Jährige an seine zu Anfänge zu Kindheitstagen, in denen er nicht nur in handballerischer Hinsicht viel für sein weiteres Leben lernt.
Schon früh fiel Ihr besonderes Talent auf. Aber eine Karriere kann man nicht planen. Oder etwa doch?
Gensheimer: Na ja, irgendwo zu Hause bei meiner Mutter müsste noch ein Zettel im Haus liegen, auf dem ich vor einem Minispiel mit dem TV Friedrichsfeld aufgezeichnet habe, wie wer welche Wege läuft. Da war die Faszination für den Handball zumindest schon mal frühzeitig sehr, sehr groß. Das war einfach Leidenschaft pur. Spaß am Sport und Spaß an der Gemeinschaft. Zu dieser Zeit wurden mir Werte vermittelt, die man als Kind erst einmal nicht wahrnimmt.
Klingt nach einem schönen Leben in der Sporthalle.
Gensheimer: Meine Kumpels und ich waren auch ohne Trainer in der Halle oder wir haben nach dem Training Bälle aufs Tor geworfen oder irgendwelche Trickwürfe probiert. Einfach Bälle gegen die Heizung im Kabinenflur geworfen. Es gab nur Handball.
Ein waschechter Mannheimer
- Geboren: Uwe Gensheimer kam am 26. Oktober 1986 in Mannheim zur Welt.
- Jugend: Zunächst spielte er Handball für den TV Friedrichsfeld und wechselte 2003 zur SG Kronau/Östringen, den heutigen Rhein-Neckar Löwen.
- Laufbahn: 2005 stieg Gensheimer mit den Löwen in die Bundesliga auf. Danach wurde er zum Gesicht des Vereins und zu einem der besten Linksaußen aller Zeiten. Bis 2016 spielte Gensheimer für die Mannheimer, dann schloss sich der Rechtshänder für drei Jahre Paris-Saint Germain an. 2019 kehrte Gensheimer zu den Löwen zurück.
- Erfolge: EHF-Pokalsieger (2013), Meister (2016) und Pokalsieger (2023) mit den Löwen; Meister (2017, 2018, 2019) und Pokalsieger (2018) mit Paris; Olympia-Bronze (2016) mit der deutschen Nationalmannschaft.
- Auszeichnungen: Torschützenkönig der Champions League (2011, 2017, 2018); Torschützenkönig der Bundesliga (2012); Deutschlands Handballer des Jahres (2011, 2012, 2013, 2014).
- Nationalmannschaft: Gensheimer bestritt 204 Länderspiele und erzielte 921 Tore. Von 2014 bis zu seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft 2021 war er Kapitän des Teams.
Wann wurde aus dem Traum ein echter Plan, der über die Skizze für ein Miniturnier hinausging?
Gensheimer (lacht): So etwas entwickelt sich. Erst kamen die Kreisauswahl-Mannschaften, dann die Verbandsauswahl, schließlich die Jugend-Nationalmannschaft. Irgendwann wurde aus dem Traum das Ziel, Nationalspieler zu werden und dafür alles zu tun.
Also auch zu verzichten, in der Jugend also lieber zu trainieren, anstatt feiern zu gehen?
Gensheimer: Für mich war das kein Verzicht. Ich hatte dieses große Ziel. Das stand über allem anderen.
Außer Frage steht, dass Gensheimer sein Ziel erreicht und Maßstäbe gesetzt hat. Er wird die große Bühne als lebende Legende verlassen. Als eine Figur, die die Rhein-Neckar Löwen als Spieler und Mensch geprägt hat – woran natürlich noch nicht zu denken ist, als er 2003 zur SG Kronau/Östringen, den heutigen Rhein-Neckar Löwen, wechselt. Am 6. März 2004 bestreitet Gensheimer sein erstes Bundesligaspiel. Mit gerade einmal 17 Jahren. Der Linksaußen erzielt bei der 30:34-Niederlage gegen die SG Flensburg-Handewitt in der Eppelheimer Rhein-Neckar-Halle einen Treffer und erhält ein Sonderlob vom damaligen Trainer Michael Roth.
Als Sie sich 2003 der SG Kronau/Östringen anschlossen: Was war das zu dieser Zeit für ein Verein?
Gensheimer: Ich kam kurz nach dem Zusammenschluss von der TSG Kronau und dem TSV Baden Östringen zur SG Kronau/Östringen und hatte mir vorher schon Spiele zwischen diesen Clubs angesehen. Auf einmal war das eine Spielgemeinschaft. Es gab eine Aufbruchstimmung, aber auch ein wenig das Östringer und das Kronauer Lager, hier und da auch Vorurteile. Aber das ist völlig normal, wenn es zu einer Spielgemeinschaft kommt.
War Ihr Weg von Mannheim zur SG Kronau/Östringen vorgezeichnet?
Gensheimer: Nicht unbedingt. Ich habe damals noch in Friedrichsfeld gelebt, deswegen auch mal ein Probetraining in Schwetzingen gemacht. Die Rhein-Neckar-Region ist sehr handballverrückt. Da gibt es viele Optionen. Wir haben auch noch Leutershausen und Friesenheim. Aber Kronau/Östringen war damals die beste Option für mich. Deswegen bin ich den Schritt gegangen und habe ihn seitdem nie bereut.
Wie waren die Anfänge?
Gensheimer: Ich habe viel gespielt, es war ein besonderes erstes Jahr: A-Jugend, zweite Herren-Mannschaft in der Regionalliga. Und ab dem Winter kam punktuell das Training der ersten Mannschaft dazu.
Klingt stressig.
Gensheimer: Aber ich habe es unheimlich gerne gemacht. Und was den Umgang miteinander anging – das war in allen Mannschaften genauso, wie ich es aus Friedrichsfeld kannte. Das hat mir den Einstieg natürlich erleichtert.
Ihre Leistungen und Erfolge sprechen für sich. Über allem steht aber, dass Sie das Gesicht der Löwen sind. Und zwar schon seit vielen, vielen Jahren. Wie schwierig war das vielleicht auch, gerade als junger Spieler?
Gensheimer: Es ging alles ziemlich schnell. Ich bin da reingewachsen. Ich kann mich an ein Abendessen oder Gespräch mit Daniel Hopp (Geschäftsführer der SAP Arena: Anmerkung der Redaktion) und Uli Schuppler (damals Geschäftsführer der Löwen: Anmerkung der Redaktion) erinnern. Das ist jetzt viele Jahre her. Beide haben damals mit mir darüber gesprochen, ob ich damit klarkomme, dass sich so viel auf mich fokussiert, dass ich so sehr in der Öffentlichkeit stehe. Ich bin noch zur Schule gegangen und am Ludwig-Frank-Gymnasium fuhr die Straßenbahn mit dem Logo der SAP Arena und meinem Konterfei vorbei.
Da kann man schon mal abheben. Warum ist das Ihnen nicht passiert?.
Gensheimer: Diese Konstellation war und ist ein großes Glück und die Zeit bei den Löwen ein großes Geschenk für mich. So habe ich das früher gesehen. Und so sehe ich das heute auch noch. Ich bin in Mannheim geboren und hatte die Möglichkeit, mit dem Verein in meiner Heimatstadt zu wachsen. Das ist ein unglaubliches Privileg, das ich in meiner ganzen Karriere zu schätzen wusste, weil es keine Selbstverständlichkeit ist.
Mit Martin Strobel haben Sie zwar nie zusammen in einem Verein gespielt, aber praktisch sämtliche Auswahlmannschaften durchlaufen. Er hat zu mir gesagt: „Wegen Uwe haben Kinder angefangen, Handball zu spielen.“
Gensheimer (macht eine Pause und holt tief Luft, bläst die Wangen auf und atmet anschließend laut aus): Puh...das ist ein riesengroßes Kompliment. Aber genau das, was er sagt, war auch immer meine Motivation. Ich wollte immer Dinge beherrschen, die nicht jeder kann oder die noch nie einer gemacht hat. Und die dann die Kinder nachmachen. Das hat mich angespornt – und ich glaube, dass sich das auch in meinen Würfen widerspiegelt und in der Art und Weise, wie ich gespielt und den Handball interpretiert habe.
Nämlich spektakulär.
Gensheimer: Trotzdem ging es nicht in erster Linie um die Show, sondern vor allem um die Effektivität. Es bringt ja nichts, einen Dreher reinzumachen und die anderen vier Würfe nicht.
Lange 13 Jahre hält Gensheimer zunächst den Rhein-Neckar Löwen die Treue. Er erlebt einige Enttäuschungen, verliert dreimal das Pokalfinale (2006, 2007, 2010) und auch das Endspiel um den Europapokal der Pokalsieger (2008). 2013 gelingt mit dem Triumph im EHF-Cup der erste Titelgewinn, ein Jahr später wiederum verpassen die Mannheimer dramatisch die Meisterschaft. Am Ende fehlen ihnen zwei Tore. Gensheimer wird in dieser Zeit immer wieder von anderen Clubs umworben, doch er geht erst 2016. Und zwar nachdem seine Mission mit seinem „Herzensverein“ erledigt ist. Der Linksaußen verlässt Mannheim mit der Meisterschale und wechselt zu Paris Saint-Germain.
Warum sind Sie erst einmal 13 Jahre bei den Löwen geblieben?
Gensheimer: Ich hätte mit Sicherheit bei anderen Vereinen mehr Titel gewinnen können. Aber tief in meinem Innersten bin ich davon überzeugt, dass ich dann nicht der Spieler geworden wäre, der ich bei den Löwen geworden bin. Diese zentrale Rolle hätte ich in keinem anderen Verein bekommen und wäre entsprechend auch kein Spieler mit dieser Persönlichkeit und dieser Ausstrahlung auf dem Feld geworden. Für meine Entwicklung als Spieler und Mensch war es genau richtig, so lange hierzubleiben.
Was bedeutet Ihnen die Heimat?
Gensheimer: Ich bin kein Heimscheißer (lacht). Aber ich finde die Rhein-Neckar-Region sehr lebenswert. Und das Wichtigste im Leben sind immer die persönlichen Kontakte, das private Umfeld. Sicherlich kann man sich das auch anderswo aufbauen. Aber meiner Meinung nach nicht in dem Maße, wie man es von zu Hause aus kennt.
Warum sind Sie trotzdem zwischendurch für drei Jahre nach Paris gegangen?
Gensheimer: Ich habe viele Menschen kennengelernt, die mal im Ausland gelebt haben. Das waren natürlich Mitspieler von mir, aber auch Bekannte, die im Studium ein Auslandssemester gemacht haben. Irgendwann habe ich gespürt, dass ich diese Erfahrung auch einmal machen möchte, dass mich das reizt, weil mir alle gesagt haben, wie sehr eine solche Erfahrung einen Menschen weiterbringt und den Blickwinkel verändern kann.
Inwiefern?
Gensheimer: In Deutschland haben wir die Angewohnheit, uns schnell über irgendetwas zu beschweren. Wahrscheinlich liegt es oft daran, dass die Menschen noch nichts anderes gesehen haben. Sie wissen also nicht, wie es woanders ist. Das will ich niemandem vorwerfen. Aber man kann nicht immer sagen, in Deutschland sei alles schlecht. Das finde ich falsch. Und meiner Meinung nach kann man das besser beurteilen, wenn man mal selbst im Ausland gelebt hat. Da gibt es teilweise die gleichen Probleme, vielleicht sogar noch größere.
Ich nehme aber mal an, dass Paris auch eine gewisse Anziehungskraft hatte?
Gensheimer: Natürlich. Paris ist eine wunderschöne Stadt und die sportliche Perspektive mit diesem Team war überragend. Eine Mannschaft wie diese mit so vielen Ausnahmespielern wird es vermutlich lange Zeit nicht mehr geben, vielleicht sogar nie mehr.
Mit dem netten Nebeneffekt, dass Sie plötzlich mal nicht im Mittelpunkt standen.
Gensheimer: Ich hatte damit nie ein Problem. Aber in Paris ein wenig aus dem Fokus zu sein, das war auch eine angenehme Erfahrung. Und das passiert jetzt genauso in Deutschland oder bei den Rhein-Neckar Löwen. Es kommen andere Stars nach. Früher haben die Kinder noch „Uwe, Uwe“ geschrien. Jetzt verlangen alle nach „Juri“ (Knorr: Anmerkung der Redaktion). Das ist der Gang der Zeit – und vor allem auch gut so. Die Jugendlichen müssen Vorbilder haben, denen sie nacheifern können.
Der große Traum vom Champions-League-Titel erfüllte sich in Paris trotz des Starensembles aber nicht.
Gensheimer: Ein großer Antrieb für meinen Wechsel nach Frankreich war – und das sage ich ganz offen und ehrlich – der Sieg in der Champions League. Die Mannschaft war so zusammengestellt, damit dieses Ziel erreicht wird. Der Club hatte diesen Titel noch nicht gewonnen und ich wollte gerne dabei sein, wenn es das erste Mal passiert. So wie mit der ersten Meisterschaft bei den Löwen. Denn es ist immer etwas ganz Besonderes, wenn etwas zum ersten Mal gelingt.
2017 waren Sie ganz nah dran, in letzter Sekunde verloren Sie mit PSG aber gegen Vardar Skopje.
Gensheimer: Und das tut immer noch weh. Dieser Schmerz wird mich vermutlich den Rest meines Lebens begleiten. Im Finale auf diese Art und Weise zu verlieren – und dann fiel das Siegtor für Skopje noch über meine Seite. Das wird mich verfolgen.
Aber das Gegentor war nicht zwingend Ihr Fehler. Ihr Team musste in Unterzahl verteidigen.
Gensheimer: Ich weiß. Aber ich kann diesen Titel als Spieler nicht mehr gewinnen. Und diese Gewissheit schmerzt. Auch wenn ich eine überragende Zeit in Paris hatte und dort wahrscheinlich auf dem besten Niveau gespielt habe, das ich jemals hatte. Dass dieser Titel fehlt, macht die drei Jahren ein bisschen unvollkommen.
Dafür haben Sie ein paar andere Dinge gewonnen.
Gensheimer: Und die Meisterschaft mit den Löwen 2016 hat auch den höchsten Wert für mich. Diesen Titel würde ich gegen nichts eintauschen. Der steht über allem – und auch deswegen bin ich trotz des fehlenden Champions-League-Pokals absolut im Reinen mit mir. Man kann an eine Karriere keine Erwartungen haben. Die Grenzen setzt man sich immer selbst. Und so, wie es gelaufen ist, war es schon ziemlich gut.
Im November 2005 bestreitet Gensheimer sein erstes von 204 Länderspielen. Der Linksaußen erzielt 921 Tore für die Auswahl des Deutschen Handballbundes, wird später sogar Kapitän der Nationalmannschaft. Bei den Olympischen Spielen 2016 gewinnt Deutschlands vierfacher Handballer des Jahres (2011, 2012, 2013, 2014) die Bronzemedaille mit seinem Team. Ihm ist es stets eine Ehre, den Adler auf der Brust zu tragen und er steht sogar nach einem schlimmen Schicksalsschlag für sein Land auf dem Feld.
Lange Zeit waren Sie der einzige deutsche Weltklasse-Hand-baller und die Nationalmannschaft kam nicht für Medaillen infrage. Warum haben Sie trotzdem nie ein Turnier abgesagt?
Gensheimer: Für sein Land zu spielen, ist eine riesengroße Ehre und hat mich immer mit Stolz erfüllt. Man sagt nicht einfach für die Nationalmannschaft ab. So habe ich das zumindest immer gesehen. Als Kapitän stand ich später ohnehin in der Verantwortung. Bei einem Turnier geht es immer um die ganze Sportart, denn bei einer EM oder WM bekommt der Handball eine riesengroße Aufmerksamkeit. Entsprechend habe ich schon die Pflicht in mir gespürt, etwas für den Handball zu tun – auch weil mir diese Sportart so viel gegeben hat.
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2016 gewannen Sie Olympia-Silber, fehlten aber verletzt beim EM-Triumph. Bitterer kann es kaum laufen.
Gensheimer: Ich mache meine Karriere nicht nur an Titeln fest, sondern auch an gemeinsamen Erlebnissen. Manch einer kann das vielleicht nicht nachvollziehen. Das ist auch nicht schlimm. Ich weiß nur für mich, dass mich diese ganzen Erlebnisse mit vielen Spielern wie etwa Steffen Weinhold oder Martin Strobel für immer verbinden werden. Und das ist ein Wert an sich. Wir hatten immer riesigen Spaß, wenn wir mit der Nationalmannschaft unterwegs waren.
Kurz vor der WM 2017 in Frankreich starb Ihr Vater ganz überraschend. Sie haben trotzdem die Weltmeisterschaft gespielt. Jeder hätte verstanden, wenn Sie abgesagt hätten.
Gensheimer: Es war ein Sonntag, wir saßen mit der Nationalmannschaft beim Mittagessen. Auf meinem Handy habe ich gesehen, dass meine Frau immer und immer versucht hatte, mich zu erreichen. Aber beim Mittagessen ist Handyverbot. Beim fünften Mal hab ich mir gedacht: Okay, jetzt muss ich mal kurz raus und bin ans Telefon. Und dann hat Sandra mir mitgeteilt, dass . . . (Gensheimer schluckt und holt tief Luft) . . . dass mein Papa gestorben ist. Ich bin auf einem Sessel an der Rezeption in der Sportschule Kaiserau zusammengesackt, ich war apathisch. Irgendjemand kam dann und hat mich gefragt, was los sei. Und ich sagte: „Mein Papa ist gestorben. Mein Papa ist gestorben.“ Danach war die Unruhe natürlich groß.
Sie sind damals direkt nach Hause, standen aber auch vor der Frage: Soll ich diese WM spielen oder nicht?
Gensheimer: Es war eine Entscheidung, die ich unmöglich alleine treffen konnte, unmöglich alleine treffen wollte. Ich saß zu Hause mit meiner Mutter, mit meinem Onkel und mit meiner Frau. Unser Sohn Matti war gerade acht Monate alt und ich habe gesagt: „Ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Als Kapitän habe ich mich verantwortlich für die Nationalmannschaft gefühlt. Aber ich habe natürlich vor allem auch eine Verantwortung meiner Familie gegenüber.
Und dann?
Gensheimer: Habe ich auf meine Familienmitglieder gehört. Sie haben gesagt: „Dein Papa hätte gewollt, dass du spielst.“ Also bin ich nach Frankreich gefahren, kam zum Abschlusstraining vor dem ersten WM-Spiel in die Trainingshalle und dann . . . (Gensheimer holt erneut tief Luft). . . und dann wurde das Training unterbrochen. 20 Leute haben mich in die Mitte genommen, mich umarmt. Seit diesem Tag hatte ich jedes Mal, wenn die Nationalhymne vor einem Länderspiel gespielt wurde, das Bild von meinem Vater im Kopf.
Sie haben damals ein herausragendes Turnier gespielt. Angesichts der Umstände war das eine fast unmenschliche Leistung.
Gensheimer: Zwischendurch musste ich wieder zur Beerdigung nach Mannheim. Dort habe ich erneut meine Familie gesehen, anschließend ging es wieder zurück nach Frankreich. Ich weiß bis heute nicht zu 100 Prozent, ob es richtig oder falsch war, dieses WM zu spielen. Habe ich gespielt, weil es eine Ablenkung war? Oder habe ich gespielt, um das alles zu verdrängen? Ich habe darauf keine Antwort.
Im Jahr 2021 tritt Gensheimer aus der Nationalmannschaft zurück. Er will sich voll und ganz auf die Rhein-Neckar Löwen konzentrieren, zu denen der Linksaußen 2019 zurückgekehrt ist und mit denen er 2023 Pokalsieger wird. Ein Jahr später endet diese herausragende Laufbahn, auch weil sich die Terminhatz im Handball und der damit einhergehende Raubbau am eigenen Körper bemerkbar machen. Er bleibt den Löwen aber in anderer Funktion erhalten.
Sie freuen sich auf Ihre neue Aufgabe als Sportchef bei den Löwen, geben dafür aber auch Ihre aktive Karriere auf. Wie schwer fällt Ihnen das?
Gensheimer: Es ist kein abruptes Ende, sondern das Ergebnis eines langen Prozesses, der über Monate, vielleicht sogar über Jahre ging. Wenn man immer wieder mit Verletzungsproblemen zu kämpfen hat, nach einem Spiel drei Tage nicht mehr trainieren kann, nach der Halbzeitpause aufsteht und Schmerzen in der Achillessehne spürt – dann ist man nicht mehr der Spieler, der man einmal war. Dann bin ich nicht mehr der Spieler, der ich einmal war. Ich kann einfach nicht mehr diese Führungsrolle einnehmen, die ich einmal hatte. Und genau das habe ich seit einiger Zeit gespürt.
Also kamen die Gedanken an ein Karriereende schon vor der Knieoperation im vergangenen Jahr?
Gensheimer: Ja. Unabhängig davon zeigt meine Knieverletzung aber doch auch, wie schnell es im Profisport gehen kann. Wir wurden Pokalsieger, ich wurde nach vielen vergeblichen Anläufen endlich Pokalsieger. Zwei Wochen später folgte die Knieverletzung. Da wusste ich, dass es schwierig wird mit meiner Rückkehr.
Sie hätten sofort Schluss machen können.
Gensheimer: Das war keine Option, das kam für mich überhaupt nicht infrage. Mit solch einer Entscheidung wäre ich mir selbst nicht gerecht geworden. Deswegen wollte ich mich noch einmal zurückkämpfen. Und deswegen ist es jetzt auch okay für mich, einen Schlussstrich zu ziehen. Weil es über die Jahre eben immer schwieriger wurde, in dieser Intensität und Taktung Höchstleistungen zu bringen.
Tut das Ende trotzdem weh?
Gensheimer: Auf jeden Fall. Für mich endet ein Lebensabschnitt. Ich gebe etwas auf, was ich bislang fast jeden Tag gemacht habe.
Wie sieht die Zukunft der Löwen aus?
Gensheimer: Die Leistungsdichte in der Bundesliga ist viel höher als noch vor einigen Jahren. Auch weil andere Vereine wirtschaftlich extrem gewachsen sind. Das führt eben dazu, dass so viele Clubs um die internationalen Plätze spielen und wir nicht mehr zu den besten drei, vier Mannschaften gehören. Es ist trotzdem unser Anspruch, den Verein wieder dorthin zu bringen, wo er einmal stand.
2016 mit Ihnen auf Platz eins.
Gensheimer: Diese Meisterschaft haben wir aber auch erst mit einem langen Anlauf gewonnen. Mit Konstanz im Kader und schlimmen Rückschlägen, als wir 2014 die Meisterschaft wegen des Torverhältnisses verloren haben. Im Prinzip war dieser Schock aber der Schlüssel für die späteren Erfolge.
Inwiefern?
Gensheimer: Weil wir von dem Tag an wussten: Es kommt auf jede Kleinigkeit an. Das wurde uns ja zuvor auf brutale Art und Weise gezeigt. Und daraus ist dieser unbändige Wille entstanden, endlich diese Meisterschaft zu gewinnen.
Als Sportchef werden Sie vielleicht künftig Spielern, mit denen Sie jetzt noch in der Kabine sitzen, sagen müssen, dass sie keinen neuen Vertrag erhalten. Wie wollen Sie diesen Rollentausch meistern?
Gensheimer: Vor dieser Situation habe ich Respekt. Andererseits weiß ich selbst, wie ich gerne als Spieler behandelt worden bin. Eine offene und ehrliche Kommunikation ist wichtig. Und wenn es die gibt, ist auch das gegenseitige Verständnis größer. Davon bin ich überzeugt.
Stefan Kretzschmar führt als Sportvorstand der Füchse Berlin seine Vertragsgespräche mit Spielern nicht in der Geschäftsstelle, sondern in lockerer Atmosphäre, zum Beispiel in einem Café. Wo werden Sie das machen?
Gensheimer: Gerne in der Sauna.
Wie bitte? In der Sauna?
Gensheimer: Ja, da kann man sich ganz gut unter vier Augen unterhalten und die Gespräche dauern nicht so lange (lacht).
Weil Sie die Sauna auf Temperaturen aufheizen, die nur wenige Menschen aushalten. Zumindest erzählt man sich das.
Gensheimer: Ja, das stimmt. Aber Spaß beiseite: Ich habe wirklich schon in der Sauna mit ein paar Jungs einige Dinge besprochen, die nicht jeder mitbekommen sollte. Der Ort ist also nicht vollkommen ungeeignet.
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