Velimir Petkovic hat die Bundesliga geprägt, jetzt ist er russischer Nationaltrainer. Im Riesenreich hat der 65-Jährige noch immer mit den Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion zu kämpfen. Im Interview spricht er über seine Arbeit und die deutsche Mannschaft.
Herr Petkovic, die russische Nationalmannschaft war bis zur Jahrtausend-Wende immer ein Medaillenkandidat. Was ist seitdem passiert?
Velimir Petkovic: Russland ist keine große Handball-Nation mehr. Es gab mal eine Zeit, da stand der Staat hinter dem Sport, da war der Handball ein politisches Projekt. Nicht nur in Russland, sondern auch in anderen osteuropäischen Staaten wie etwa Rumänien. Doch durch die politischen Veränderungen in den vergangenen 30 Jahren ist da ein wenig was verloren gegangen in diesen Ländern. Der Handball hat sich nicht auf die neuen Gegebenheiten eingestellt, vor allem bei der Finanzierung. Da haben es andere Sportarten in Russland besser gemacht.
Velimir Petkovic
- Velimir Petkovic wurde am 5. Juli 1956 in Tihaljina (früher Jugoslawien, jetzt Bosnien) geboren.
- Mit seinem Heimatverein RK Borac Banja Luka gewann er als Spieler und als Trainer jeweils einen Europapokal.
- 1991 kam Petkovic nach Deutschland und übernahm den Zweitligisten SG Stuttgart-Scharnhausen. Es folgten weiteren Stationen bei kleineren Vereinen.
- 1998 übernahm Petkovic die HSG Wetzlar und etablierte den Club in der Bundesliga. Nach sechs Jahren ging er zu Frisch Auf Göppingen und gewann mit den Schwaben 2011 und 2012 den EHF-Pokal. Im Dezember 2013 wurde er entlassen.
- Nach einem Intermezzo beim Zweitligisten ThSV Eisenach heuerte der Trainer im Dezember 2016 bei den Füchsen Berlin an und gewann 2018 erneut den EHF-Pokal.
- Seit 2020 ist Petkovic russischer Nationaltrainer.
Welche?
Petkovic: Wenn ich mir Volleyball oder Basketball ansehe – beide Sportarten sind in Russland sehr beliebt. Es gibt große Sponsoren und professionelle Strukturen, die Vereine spielen in den europäischen Wettbewerben eine wichtige Rolle. Das gilt für den Handball nicht. In der Champions League ist keine russische Mannschaft dabei, in der European League kommt keine für den Titel infrage. Das bekomme ich auch als Nationaltrainer zu spüren.
Inwiefern?
Petkovic: Die meisten meiner Spieler sind in Russland aktiv, das Niveau der Liga ist aber nicht hoch. Erschwerend kommt hinzu, dass ich zu wenig Zeit mit meiner Mannschaft verbringe. Der deutsche Bundestrainer Alfred Gislason erhält ein paar zusätzliche Tage von der Liga, um mit seinen Spielern zu arbeiten. Das ist in Russland nicht umsetzbar. Die Clubs sind ständig unterwegs, die Anreise zu Auswärtsspielen zieht sich manchmal über zwei Tage, weil das Land so unglaublich groß ist. Die Spieler sitzen viel im Flugzeug, entsprechend weniger trainieren sie. Und dann sitzt da bei manch einem Verein noch ein Trainer der alten Garde auf der Bank, der einfach nicht bereit ist, seine Spieler mal zwischendurch für zwei, drei Tage zur Nationalmannschaft zu schicken.
Wie stark ist Ihr Team denn überhaupt?
Petkovic: Wenig Zeit, wenig Qualität – da ist es grundsätzlich schwierig, etwas Gutes zu leisten. Aber als ich anfangen habe, hatte Russland die EM 2020 gerade auf dem vorletzten Rang beendet: Platz 22 von 24. Ein Jahr später bei der WM haben wir die Vorrundengruppe gewonnen – übrigens vor Mannschaften wie Slowenien und Belarus, die ich normalerweise stärker als uns einschätze. In der Hauptrunde hatten wir dann keine Chance gegen Ägypten und Schweden, diese Mannschaften sind in der Breite einfach besser besetzt als wir. Jetzt haben wir unsere Qualifikationsgruppe für die EM gewonnen. Wir haben also einen großen Sprung nach vorne gemacht.
Wird sich diese Entwicklung bei der EM fortsetzen?
Petkovic: Ich erzähle Ihnen mal eine Geschichte. Ein Journalist wollte kurz vor Weihnachten von mir wissen, ob eine Medaille möglich sei. Ganz ehrlich: Was ist das für eine Frage, wenn man sieht, wo wir herkommen? Da musste ich schon aufpassen, was ich sage. Denn wenn ich mit „Nein“ antworte, dann heißt es: Der Petkovic ist nicht optimistisch, wie soll er dann die Mannschaft motivieren.
Was haben Sie ihm geantwortet?
Petkovic (lacht): Ich will immer gewinnen.
Das wollen alle. Wird genau das Ihrer Mannschaft in den nächsten Jahren noch häufiger gelingen?
Petkovic: Ich hatte den Plan, drei, vier jüngere Spieler in meine Mannschaft einzubauen. Aber wissen Sie: Unsere Junioren wurden gerade bei der Europameisterschaft Vorletzte. Im Nachwuchsbereich gibt es also wenig bis gar keine Spieler, die mir zeitnah helfen könnten. Im Prinzip muss sich der Verband bei den Junioren ganz neu aufstellen, einen klaren Schnitt machen und das gesamte Scouting verändern. Das ist verbunden mit harter Arbeit. Aber anders geht es nicht.
Hört sich ein wenig so an wie beim ehemaligen Löwen-Trainer Iouri Chevtsov, der in Belarus aus dem Nichts alles neu aufgebaut hat.
Petkovic: Iouri leistet seit sehr langer Zeit fantastische Arbeit. Er hat bei null angefangen, alles neu aufgebaut und ist mittlerweile seit mehr als zehn Jahren Nationaltrainer. Nun kann er die Erfolge seiner Arbeit ernten. Iouri hat wirklich eine starke Mannschaft geformt. Aber daran sehen wir doch: Sowas geht nicht von heute auf morgen.
In der EM-Hauptrunde können Sie mit Russland auf Deutschland treffen. Wie reizvoll wäre solch ein Duell für Sie?
Petkovic: Jetzt gerade hört es sich für mich an wie ein ganz normales Spiel. Aber wenn es zu dieser Paarung kommen sollte und ich in die Vorbereitung einsteige, dann denke ich natürlich darüber nach, welche Spieler aus der deutschen Mannschaft ich schon trainiert oder gegen wen ich gespielt habe. Dann wird es vermutlich auch kein normales Spiel mehr sein.
Die Deutschen müssen ohne einige Leistungsträger auskommen…
Petkovic: …aber die Bundesliga ist die stärkste Liga der Welt. Entsprechend wird es auch immer möglich sein, eine starke deutsche Mannschaft zusammenzustellen. Jeder aus diesem Team ist es gewohnt, alle drei Tage ein wirklich schweres Spiel zu bestreiten. Das kann ansonsten keine andere Nation von sich behaupten. Dennoch haben die Deutschen auch ihre Probleme.
Welche denn?
Petkovic: Der deutschen Mannschaft fehlt ein Ausnahmekönner wie Mikkel Hansen bei den Dänen oder Sander Sagosen bei den Norwegern. Diese Spieler ziehen ihre Mannschaften wie eine Lokomotive. Sie übernehmen Verantwortung in wichtigen Momenten, können ein Spiel allein entscheiden oder ihre Mannschaft in Drucksituationen führen. Solch einen Spieler gibt es nicht bei den Deutschen.
Wie verfolgen Sie die Debatte um die abnehmende Attraktivität der Nationalmannschaft? Einige deutsche Nationalspieler verzichten auf die EM. Vor einem Jahr bei der WM was es ähnlich.
Petkovic: Meiner Meinung nach ist das ganz einfach: Wenn jemand nicht mit vollem Herzen für sein Land spielen will, dann braucht man ihn auch nicht. Als Trainer nehme ich dann lieber einen Spieler mit, der gerne zur Nationalmannschaft kommt und von dem ich weiß, dass er alles geben wird. Spieler wie Johannes Golla. Wir sollten außerdem niemals die Europameisterschaft 2016 vergessen. Wer hat damals die Titelchance der Deutschen bei einem Prozent gesehen?
Ich…eigentlich sogar bei weniger als einem Prozent.
Petkovic: Ich auch. Und wer ist am Ende mit Gold nach Hause gekommen?
Deutschland.
Petkovic: Sehen Sie! Mit Zusammenhalt, Charakter und Disziplin ist auch sehr viel möglich. Ich bin auf jeden Fall nicht glücklich darüber, in der Hauptrunde auf Deutschland treffen zu können.
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