Henning Fritz stellte im Februar 2016 zwar keine steile These auf, äußerte aber eine berechtigte Hoffnung. Nach dem sensationellen EM-Triumph zeigte sich der einstige Weltklasse-Torwart optimistisch, dass nach der jahrelangen Dominanz der französischen Handball-Nationalmannschaft nun das Zeitalter der Deutschen anbreche. Es gab ja auch allen Grund dazu, denn der Titelgewinn in Polen gelang mit einer jungen Mannschaft, die noch dazu auf einige Leistungsträger verzichten musste. Wenn also nicht jetzt, wann also dann sollte es etwas werden mit der Etablierung in der Weltspitze? Es folgte wenige Monate später Olympia-Bronze – und damit endete der schwarz-rot-goldene Traum. Die Erfolgsstory verkam zur Kurzgeschichte.
Sechs Jahre, zwei Bundestrainer und einige schwere Enttäuschungen später reist die deutsche Mannschaft wieder zu einer EM. Wieder fehlen einige Leistungsträger. Und wieder wird einer jungen Auswahl wenig zugetraut. Das klingt nach 2016, nur lassen sich Handball-Märchen nicht beliebig wiederholen. Wenn es sehr gut läuft, gewinnen die Deutschen ihre Vorrundengruppe und sorgen in der Hauptrunde für die eine oder andere Überraschung. Wenn es normal läuft, sind spätestens die drohenden Hauptrundengegner Schweden, Spanien und Norwegen allesamt eine Nummer zu groß.
Bundestrainer Alfred Gislason weiß das. Seit knapp zwei Jahren ist der Isländer nun im Amt - und manch einer beim Deutschen Handballbund (DHB) glaubte, mit der Verpflichtung des Erfolgscoaches erledigen sich alle Probleme von alleine, was sich relativ schnell als Trugschluss erwies. Ein großer Name allein garantiert keinen Erfolg, eine ehrliche Bestandsaufnahme wäre von Beginn an besser und vor allem hilfreicher gewesen. Es fehlt schlichtweg an deutschen Weltklassespielern. Hendrik Pekeler ist der einzige – doch der Kieler legt jetzt eine Pause in der Nationalmannschaft ein, was die Rückkehr in die Weltspitze noch komplizierter und schnelle Erfolge unwahrscheinlich macht.
Gegenwart und Zukunft
Gislason wirft auch deshalb bewusst den Blick voraus. 2024 wird die EM in Deutschland ausgetragen, spätestens dann soll und muss die DHB-Auswahl wieder ein Kandidat für Medaillen sein. Das Problem: So richtig es auch ist, zielgerichtet in Richtung Zukunft etwas aufzubauen, so falsch wäre es ebenfalls, die Gestaltung der Gegenwart zu ignorieren. Für eine deutsche Mannschaft gibt es schlichtweg kein Übergangsturnier. Das ist in einer der weltgrößten Handball-Nationen mit einem Millionenpublikum vor den Fernsehern kaum vermittelbar. Spiele der Nationalmannschaft sind seit jeher Popcorn fürs Volk. Es werden zwar nicht zwingend Medaillen, sehr wohl aber Ergebnisse erwartet. Und zwar gute.
Gislason muss also einen schwierigen Spagat meistern. Es geht um Kurz- und Langfristigkeit, um neue Hierarchien und bewährte Strukturen, um Experimente und Erprobtes. Und am Ende immer auch um Erfolg, den der Bundestrainer bislang bei der WM und Olympia 2021 nicht hatte – nun aber zwingend benötigt. Für seinen Status als Retter der Nationalmannschaft. Und als Mutmacher für 2024.
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Bergsträßer Anzeiger Plus-Artikel Kommentar Gislason muss Spagat meistern
Marc Stevermüer zur Situation des Nationalteams