Mannheim. Nach einigen verpassten Zielen geht die deutsche Handball-Nationalmannschaft nicht nur demütig, sondern auch rundum erneuert bei der Europameisterschaft an den Start. Ein echter Star fehlt diesem Team, in dem aber Talent und Begeisterung stecken. Ob das für eine Überraschung reicht?
Wenn die deutschen Handball-Nationalspieler in diesen Tagen in ihrem Teamquartier zum Essen zusammenkommen, hat das häufig etwas von einem gemütlichen Beisammensein. „Keiner verlässt hastig den Tisch, um sich schnell auf sein Zimmer zurückzuziehen“, berichtet Axel Kromer, der Sportvorstand des Deutschen Handballbundes (DHB). Stattdessen wird gesprochen und diskutiert, gemeinsam Kaffee getrunken, aufmerksam zugehört. Es ist ja auch irgendwie spannend. Sogar für einen so erfahrenen Haudegen wie Patrick Wiencek: „Die Hälfte der Mannschaft kannte ich vorher nicht. Wir haben uns eine Menge zu erzählen.“
Der deutsche EM-Kader
- Tor: Till Klimpke (HSG Wetzlar), Joel Birlehm (SC DHfK Leipzig), Andreas Wolff (Vive Kielce/Polen).
- Linksaußen: Lukas Mertens (SC Magdeburg), Marcel Schiller (Frisch Auf Göppingen).
- Rückraum links: Julius Kühn (MT Melsungen), Sebastian Heymann (Frisch Auf Göppingen).
- Rückraum Mitte: Julian Köster (VfL Gummersbach), Luca Witzke, Simon Ernst (beide SC DHfK Leipzig), Philipp Weber (SC Magdeburg).
- Rückraum rechts: Kai Häfner (MT Melsungen), Djibril M’Bengue (FC Porto/Portugal), Christoph Steinert (HC Erlangen).
- Rechtsaußen: Timo Kastening (MT Melsungen), Lukas Zerbe (TBV Lemgo Lippe).
- Kreis: Johannes Golla (SG Flensburg-Handewitt), Patrick Wiencek (THW Kiel), Jannik Kohlbacher (Rhein-Neckar Löwen).
Der Kreisläufer vom Bundesliga-Meister THW Kiel ist mit 32 Jahren der älteste Spieler in der DHB-Auswahl, was für ihn ein „bisschen komisch“ sei. „Ich fühle mich wie der Opa“, sagt der Routinier mit Blick auf die neun Kollegen, die bei der EM in der Slowakei und in Ungarn vor ihrem Turnierdebüt stehen.
Spürbare Energie
Zu den Neuen gehört auch Torwart Joel Birlehm vom SC DHfK Leipzig, der in diesen Tagen Vater wird und als Nummer 3 zwischen den Pfosten erst einmal zurück in die Heimat reiste. Die Vorbereitungszeit in Großwallstadt hat ihn begeistert. „Ich habe mit Patrick Wiencek darüber gesprochen, wer in unserer bisherigen Laufbahn unsere besten Mitspieler waren. Patrick musste überlegen, ob er sich für Marcus Ahlm, Momir Ilic oder Filip Jicha entscheidet. Das ist ja Wahnsinn, mit wem der zusammengespielt hat. Und jetzt gehöre ich zum gleichen Team wie er“, staunt Birlehm. Oder besser gesagt: So richtig kann der künftige Torwart der Rhein-Neckar Löwen (ab 2023) noch gar nicht glauben, was da gerade passiert – und dass er ein Teil dieser stark verjüngen Auswahl ist, die durch Zusammenhalt und Aufbruchstimmung die fehlende Erfahrung ausgleichen will: „Wir haben eine tolle Energie im Team. Daraus kann etwas entstehen. Das ist ein Geben und Nehmen hier. Jeder kann davon profitieren, was gerade passiert.“ Übrigens auch die Routiniers, die sich laut Co-Trainer Erik Wudtke von der „gemeinsamen Vorfreude der Jungen auf das Turnier anstecken lassen“.
Die Laune ist bislang also prächtig bei den Deutschen, was aber nicht zwingend etwas heißen muss, wie Rechtsaußen Timo Kastening meint: „So lange man nicht gespielt hat, hat man immer ein gutes Gefühl.“ Und ob genau dieses anhält, wird sich schon am Freitag (18 Uhr/ARD) nach dem Auftaktspiel in Bratislava gegen Belarus zeigen. Die weiteren Vorrunden-Aufgaben lauten Österreich (Sonntag, 18 Uhr/ARD) und Polen (Dienstag, 18 Uhr/ZDF). „Wir treffen auf sehr gute Gegner, die gegen uns aber auch nicht unbedingt der Favorit sind. Wir haben den Anspruch, alle drei Spiele zu gewinnen“, legt Kromer das erste Ziel unmissverständlich fest.
Frühstart fürs Fernziel
In der Hauptrunde werden dann aber schon deutlich schwerere Aufgaben warten, mit großer Wahrscheinlichkeit geht es dann gegen Vize-Weltmeister Schweden, den EM-Dritten Norwegen und Europameister Spanien sowie Russland. „Vom Halbfinale zu sprechen wäre vermessen“, schätzt Kastening die Ausgangslage recht realistisch ein.
Entsprechend hat der DHB auch kein klares Ziel formuliert, zumal es „nicht nur um dieses eine Turnier, sondern die nächsten Jahre“ gehe, wie Kapitän Johannes Golla betont. Er denkt dabei an die EM 2024 und die WM 2027, die jeweils in Deutschland ausgetragen werden. Auch Bundestrainer Alfred Gislason hat diese zwei Turniere im Kopf, wenn er davon spricht, dass „uns diese Mannschaft in der Zukunft schöne Momente bereiten kann“.
Spätestens also in zwei Jahren soll das so sein – und der Frühstart für dieses Fernziel fällt jetzt. Bratislava wird zu einer ersten Bewährungsprobe, bei der vermutlich nicht alles klappen wird, weil nicht alles klappen kann. „Ich glaube, dass nicht durchgehend immer alle wissen werden, was wir spielen wollen. Wir werden versuchen, das ein wenig einzuschränken. Denn von einer Mannschaft, die alles blind kann, sind wir noch weit entfernt. Viele haben ja keine fünf Länderspiele absolviert“, weiß Gislason um die schwierige Ausgangslage. Es fehlt an Automatismen und Feinabstimmung, entsprechend häufig bat der 62-Jährige seine Mannschaft in den vergangenen eineinhalb Wochen in die Trainingshalle, in der „wenig gedaddelt“ wurde, wie Kastening festhält.
Gislason stellt seit dem Beginn der EM-Vorbereitung in Großwallstadt immer und immer wieder die Neugierde, den Arbeitseifer, den Tatendrang und den Wissensdurst seiner Spieler heraus. Sie hören aufmerksam zu. Ganz so, als verrate ihnen da gerade jemand die Lottozahlen des nächsten Wochenendes. Doch aus seinen Jahren in Kiel weiß Gislason auch, dass Gier und Glaube, Charakter und Courage, Emotionen und Ehrgeiz allein nicht ausreichen, um es ganz nach oben zu schaffen. Am Ende muss auch die Qualität stimmen. Große Spieler gewinnen große Spiele. Und genau hier liegt das Problem: Dieses Team hat keine großen Spieler. Und deshalb auch nicht ganz zufällig zuletzt alle großen Spiele verloren. Kurzum: In Drucksituationen war auf die Mannschaft in der jüngeren Vergangenheit so viel Verlass wie auf die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn.
„Alles ist möglich“
„Individuelle Ausnahmekönner haben wir nicht. Das muss man mal ganz klar so sagen“, sagt der langjährige Bundesligatrainer Martin Schwalb, der mit genau solchen Stars in seiner Karriere gearbeitet hat. Mit Guillaume Gille und Domagoj Duvnjak beim HSV Hamburg oder Andy Schmid bei den Rhein-Neckar Löwen. Drei Spieler, die in der Lage sind, mit der eigenen Leistung die ganze Mannschaft auf ein höheres Niveau zu hieven.
Ein Mann von diesem Format fehlt den Deutschen. Sie müssen stattdessen bei dieser EM jugendliche Unbekümmertheit, einen Hauch Unberechenbarkeit, große Begeisterung und taktische Disziplin in die Waagschale werfen. Wofür das reichen und wohin das führen kann, das lässt sich momentan allerdings nicht seriös prognostizieren. „Alles ist möglich“, sagt Kastening: „Auch ein Vorrunden-Aus.“
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Bergsträßer Anzeiger Plus-Artikel Kommentar Gislason muss Spagat meistern