Bergstraße. Nach Regie-Legende Michael Verhoeven und Berlinale-Direktor Dieter Kosslick ist Ingrid Noll die dritte Preisträgerin, die vom Brennessel-Programmkino ausgezeichnet wird. Diesmal gibt es allerdings keine bronzene, sondern eine „Blaugelbe Brennessel“. Die Nationalfarben der Ukraine sollen die Solidarität mit der von Russland überfallenen Nation ausdrücken. Die Plastik wird am Sonntag, 5. Februar, im Hemsbacher Kino übergeben.
Königsberger Klopse
Die Matinée beginnt mit einer Filmvorführung von „Die Apothekerin“ mit Katja Riemann in der Hauptrolle um 11 Uhr. Für den Erfolgsfilm hat die Weinheimer Schriftstellerin die Romanvorlage geschrieben. Danach plaudert Noll mit Filmkenner und Brennessel-Mitarbeiter Frank Krause und der Bensheimer Buchhändlerin Ingeborg Deichmann.
Im Anschluss daran werden – passend zum Film – im neuen Brennessel-Bistro Königsberger Klopse gereicht. „Garantiert unvergiftet“, wie die Organisatoren beim Pressegespräch in Heppenheim in Anspielung auf den Krimi-Inhalt betonen. Im dortigen Saalbau-Kino wird das Programm um 15 Uhr fortgesetzt, wenn die „Grande Dame des Literaturkrimis“ aus ihrem neuen Roman „Tea Time“ lesen wird.
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Passend zum Buch wird in der nostalgischen Kino-Gaststätte im Stil der 50er Jahre eine original-englische Teatime veranstaltet – natürlich mit Gurken-Sandwiches und Ceylon-Tea, wie Saalbau-Betreiber Jörg Fritz verspricht. Während die Veranstaltung in Hemsbach bereits nahezu ausverkauft ist, sind Tickets für die Lesung in Heppenheim noch erhältlich.
Mit der grenzüberschreitenden, badisch-hessischen Veranstaltung machen er und Brennessel-Chef Alfred Speiser erstmals gemeinsame Sache. Eine kulturelle Kollaboration, die nicht ohne Folgen bleiben soll, wie beide erklären. Traditionskinos müssten zusammenhalten, so Speiser, der wie Fritz das klassische Lichtspielhaus für die Zukunft retten will. Dies gehe aber nicht ohne kreative Ideen und einen individuellen Erlebnisfaktor, der dem Publikum einen Mehrwert über den reinen Kinogenuss hinaus bieten und vom Angebot der großen, eher anonymen Filmpaläste abheben soll.
Diesmal aus Aluminium
Gestaltet wurde der Preis wie in den Jahren zuvor vom Auerbacher Künstler Siegfried Speckhardt, der diesmal eines seiner bevorzugten Materialien verwendet hat: Aluminium. Nicht zuletzt, weil Bronze momentan überaus rar sei. Die Skulptur stellt eine Brennnesselpflanze auf einem Sockel dar.
Ästhetisch entspricht die Plastik jener „Brennessel“, die das Hemsbacher Kino erstmals im Oktober 2020 vergeben hat und seither jährlich einen Akteur des Genres würdigt, der sich in besonderer Weise um die Filmkunst verdient gemacht hat.
Ingrid Noll fällt als Schriftstellerin etwas aus dem Rahmen, doch die 87-Jährige habe sich mit ihrer Vorlage aus dem Jahr 1994 für den drei Jahre später fertig gestellten Streifen „Die Apothekerin“ unter der Regie von Rainer Kaufmann große Verdienste um den Arthouse-Film erworben, so Frank Krause in Heppenheim. Die Dreharbeiten fanden damals unter anderem in Heidelberg statt. Im Jahr 1998 erhielt Katja Riemann für die Titelrolle beim Deutschen Filmpreis eine Auszeichnung in der Kategorie Beste Hauptdarstellerin, Nominierungen gab es zudem in den Kategorien Bester Spielfilm und Beste Nebendarstellerin für Dagmar Manzel.
Der Hintergrund: Ein Skandal
Die „Geburt“ der Brennessel als Filmpreis geht auf einen veritablen Skandal zurück. Mit seinem experimentellen Anti-Vietnamkriegs-Film „o.k.“, für den er auch das Drehbuch schrieb, hatte Michael Verhoeven bei der Berlinale 1970 für einen Eklat gesorgt, der dazu führte, dass der Wettbewerb abgebrochen wurde und es keine Preisverleihung gab. Angeblich sei er „antiamerikanisch“. Man witterte darin aber eine Zensur seitens der Festivaljury.
Neben Verhoeven und seinem Produzenten Rob Houwer protestierten auch andere Filmemacher und zogen ihre Wettbewerbsbeiträge zurück. Die Jury gab auf. Festivalleiter Alfred Bauer trat vorübergehend zurück, und die ganze Zukunft der Berlinale stand auf der Kippe.
Bei der Verleihung des Bundesfilmpreises gewann das verstörende Schwarz-weiß-Epos, das in Bayern gedreht wurde, später die Auszeichnungen für die beste Nachwuchsdarstellerin (die erst 16-jährige Eva Mattes) und das beste Drehbuch.
Fortan durfte der Film, der auf einer wahren Begebenheit beruht, auf Befehl des Rechtsinhabers Houwer nicht mehr gezeigt werden.
Auf Initiative des gebürtigen Bensheimers Frank Krause gelang eine Einigung zwischen der Produktionsfirma und dem Regisseur. Einzige Bedingung war, dass die vom Münchner Filmmuseum restaurierte Fassung zunächst bei der Berlinale laufen sollte.
Das Brennessel in Hemsbach war danach das erste Kino, in dem der Film nach 50-jähriger Ruhe erstmals gezeigt wurde. Bei der Premiere des Europa-FilmFests im Auerbacher Kronepark erhielt im August 2021 der langjährige Berlinale-Macher Dieter Kosslick den Preis. tr
„Wir haben schwere Zeiten hinter uns“, so Alfred Speiser, der die Brennessel im Sommer 2018 übernommen hatte und auch das „Moderne Theater“ in Weinheim betreibt. Die staatlichen Finanzhilfen sind im September ausgelaufen. Man starte jetzt aber mit Rückenwind ins neue Jahr. Die Branche zeige erste Anzeichen einer Erholung, Blockbuster wie „Avatar“ und der jüngste James Bond hatten wieder Bewegung in die Kinos gebracht, von denen auch die kleinen Häuser profitieren.
Speiser blickt zuversichtlich in die Zukunft. Die Besucherzahlen im Dezember haben sich in seinen beiden Kinos sehr positiv entwickelt. Und das trotz damals noch relativ hoher Corona-Zahlen in der Region. Im Gegensatz zu manchen anderen Kinobetreibern in der Region haben das Moderne und auch die Brennessel bislang darauf verzichtet, die Ticketpreise zu erhöhen.
Unvermeidliche Preiserhöhungen
Doch ganz ohne Preiserhöhungen könnten die deutlich gestiegenen Energiepreise, Einkaufspreise und auch die Lohnkosten für das Personal nicht aufgefangen werden, so Speiser, der „moderate Erhöhungen“ ankündigt. Kinder ausgenommen. „Das sind unsere Gäste von morgen.“ Kino müsse sich jeder leisten können, ungeachtet seiner finanziellen Situation, begründet Speiser die geringen Aufschläge.
Mit einem Energiespartag reagiert der Betreiber aber auch logistisch auf die momentane Lage. Beide Kinos sollen vorübergehend an Montagen geschlossen bleiben. „Nur so gelingt uns bei dem alten baulichen Bestand eine vernünftige Sparbremse, ohne die Preise weiter zu erhöhen“.
Brücke nach Heppenheim
Mit Francis Feliziani hat er seit Anfang des Jahres einen erfahrenen Kollegen als Assistent der Geschäftsführung mit an Bord genommen. Er ist vor allem den Kinobesuchern in Weinheim bekannt, da er dort seit gut fünf Jahren als Aushilfe gearbeitet hat.
Die Brücke nach Heppenheim ist für Speiser eine buchstäblich naheliegende Initiative. Man kenne sich schon länger, doch mit der Noll-Veranstaltung gehe man jetzt neue Wege. Jörg Fritz bestätigt das. Und auch sonst schließt sich in der Kreisstadt ein Kreis: Ein Enkelkind von Siegfried Speckhardt ist im Saalbau als Filmvorführerin aktiv. Der Künstler betonte die gute Zusammenarbeit mit den Kinomachern, die sich seit 2020 sehr schön entwickelt habe. Mit Ingrid Noll – auch darin sind sich alle einig – hat die dritte Brennessel eine würdige Preisträgerin gefunden.
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