Bergstraße. Wer kennt Agnes Karll, Virginia Henderson oder Hilde Steppe? Als Teil einer prominenten Frauenbewegung gehören sie zu den Pionierinnen der Pflegewissenschaften in Deutschland. Sie haben den Weg geebnet, dass es in den letzten drei Jahrzehnten gelungen ist, die Pflegewissenschaften prominenter zu platzieren und zudem breit im Hochschulsektor zu verankern. Im Gegensatz zu Ländern wie den USA oder Skandinavien steckt die Akademisierung dieser gesellschaftlich wichtigen Branche aber noch in den Kinderschuhen. Dabei gilt dies als Schlüssel zu einer hochwertigen Versorgungsqualität. Mit dem vom Bundesrat beschlossenen Pflegestudiumsstärkungsgesetz als Finanzierungshilfe für den praktischen Teil der Ausbildung könnte ein erster Schritt getan sein.
Rund 1000 zusätzliche Pflegekräfte werden benötigt
In den kommenden Jahren werde man im Kreis Bergstraße – unter anderem aufgrund des demographischen Wandels – rund 1000 zusätzliche Personen benötigen, die im Bereich Pflege tätig sind, betonte Matthias Schimpf.
Der hauptamtliche Kreisbeigeordnete ist aktuell zuständiger Dezernent und begründete den Tag der offenen Tür mit der Absicht, der Pflege ein öffentliches Forum geben zu wollen. Mit dem Aktionstag und der Pflegekampagne des Kreises soll das Image der Pflegeberufe verbessert werden. Es gehe darum, mehr junge Menschen für diese Branche zu begeistern. Gemeinsam will man zeigen, welche Chancen und Vorteile diese Berufe mittlerweile bieten.
Die Leiterin der Gesundheitsakademie Bergstraße, Gudrun Statz, bestätigt das ohne zu zögern. „Viele wissen nicht, welche Perspektiven man genießt und wieviel Freude die Arbeit mit Menschen bereitet.“
Aber auch bezüglich der eigenen Persönlichkeitsentwicklung übe das Berufsfeld einen sehr positiven Einfluss aus: Es sei unglaublich, wie sehr sich die Menschen während ihrer Ausbildung zum Positiven verändern, so Gudrun Statz. Eine Pflegefachperson verfüge über eine enorm hohe fachliche und menschliche Qualifikation. tr
Grundsätzlich gilt: Die Pflege ist bunt, vielfältig und weitaus attraktiver als viele meinen. Nicht nur im akademischen Bereich. Dennoch hat die Branche ein Imageproblem, das zum Fachkräftemangel in den Pflegeberufen beiträgt. Genau deshalb hatten das Bildungszentrum für Gesundheitsberufe Bergstraße (BZG) und die Gesundheitsakademie Bergstraße am Freitag zu einem Tag der offenen Tür in das gemeinsam genutzte Gebäude am Berliner Ring in Bensheim eingeladen. Auf dem Campus der Karl-Kübel-Schule wurde im Rahmen der Pflegekampagne 2024 ein großer Aktionstag konzipiert, der das komplette Spektrum dieses Berufsfelds aus der Nähe präsentierte und über die Fülle der Ausbildungsmöglichkeiten Kreisgebiet informierte.
Gute Karrierechancen auch für Nicht-Akademiker
„Wir möchten Schüler, aber auch Quer- und Wiedereinsteiger für eine entsprechende Berufslaufbahn gewinnen“, betonte Marlene Didion-Seehaus, Schulleiterin und Geschäftsführerin beim Bildungszentrum für Gesundheitsberufe Bergstraße bei der Eröffnung. In kaum einem Berufsfeld seien die Aufstiegschancen auch für Nicht-Akademiker so groß wie bei der Pflege. Insbesondere für junge Menschen, die demnächst in Ausbildung starten, bot der Tag zahllose spannende Einblicke in den Berufsalltag unterschiedlicher Fachbereiche. Es ging den Gastgebern vor allem darum, möglichst realistische Einblicke zu bieten, ergänzt Gudrun Statz als Leiterin der Gesundheitsakademie Bergstraße.
Viele praktische Übungen und Simulationen luden zum Beschnuppern und Ausprobieren ein. Zum Beispiel hatten auch junge Menschen am Freitag die Chance, sich einmal 50 oder 60 Jahre älter zu machen: Mit einem sogenannten Altersanzug und einer Altersbrille erlebte man die potenziellen Handicaps des Alters am eigenen Körper – und aus einer Perspektive, die im Kopf bleibt. Es war wie ein exemplarisches Probesitzen in der Geriatrie, das in wenigen Minuten eine Menge Empathie und Verständnis erzeugen konnte. Auch Marlene Didion-Seehaus hat die Senioren-Rüstung angelegt und war nicht unfroh, als sie wieder die volle Kontrolle über die eigenen Sinne erlangt hat.
An weiteren Stationen boten Mitarbeiter von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen Übungen und Informationen zur Wundversorgung, zum Umgang mit kranken Kindern und zum Vorbereiten und Durchführen von Infusionen. Auf zwei Ebenen standen Vertreter der stationären Altenpflege, der Intensiv- oder der Palliativpflege bereit. Neben Handmassagen erlebte man die Komplexität einer Dialyse oder die meditative Wirkung von Yoga – auf Wunsch auch live unter Beteiligung von Körper und Seele.
Aber auch das elementare ABC der Pflege konnte man anhand von lebensechten Puppen selbst einmal ausprobieren: von der einfachen Körperpflege über den Transport von Patienten bis zum Luftröhrenschnitt reichte die Palette. Besucher erlebten authentische Unterrichtssequenzen mit und konnten selbst mit Hand anlegen. Niemand musste sich sorgen, etwas falsch zu machen. Alles war möglich, nur Berührungsängste fehl am Platz. Denn Körperkontakt und Berührungen sind extrem wertvoll, so Gudrun Statz. Gerade für Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, kann die körperliche Nähe das Vertrauen in die pflegende Person fördern und Wärme und Geborgenheit vermitteln.
Was also muss ein Pflege-Anwärter mitbringen? Empathie, Einfühlungsvermögen, Organisationstalent, Kraft und Ausdauer, so die Chefin der Gesundheitsakademie. Aber auch eine Sensibilität für die Balance aus Nähe und Distanz, die eine liebevolle und gleichermaßen professionelle Betreuung erst möglich mache.
Um eingeschränkte Wahrnehmung ging es im Raum der Psychiatrischen Pflege. An einer Sensorik-Bar konnte man die zentralen Geschmacksrichtungen süß, sauer, bitter oder salzig auf der eigenen Zunge überprüfen und feststellen, wie stark die individuellen Eindrücke von der persönlichen Konstitution und äußeren Einflüssen abhängen, wie Eric Roschig von der Vitos-Klinik erläuterte: „Bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung ist die Wahrnehmung manchmal stark verschoben.“ Wer dies nachvollziehen kann, etwa durch eine Simulation, der hat den ersten Schritt in eine andere Welt mit mehr Verständnis erfolgreich bewältigt.
Dies gilt auch für andere Beeinträchtigungen etwa im visuellen oder akustischen Bereich. Wer eine körperliche Behinderung selbst erlebt, versteht Betroffene besser, so eine Fachkraft. Die Pflegepädagogin Johanna Eisenhauer vom BZG präsentierte eine Virtual-Reality-Brille, mit der man verschiedene Reize auslösen und die körperlichen Reaktionen testen kann. Auch für das Gedächtnistraining sind neue digitale Technologien hilfreich.
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