Interview

Schimpf: „Auf Menschen konzentrieren, die Schutz bedürfen“

Nach Auffassung des Bergsträßer Kreisbeigeordneten Matthias Schimpf ist ein ganzes Bündel an Maßnahmen nötig, um die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren

Von 
Jörg Keller
Lesedauer: 
Der hauptamtliche Kreisbeigeordnete Matthias Schimpf zog bei einem Pressegespräch im BA-Medienhaus Bilanz nach über einem Jahr Amtszeit. Das Thema Flüchtlinge stand in den letzten Monaten im Mittelpunkt seiner Arbeit. © Thomas Zelinger
Herr Schimpf, seit August 2022 sind Sie als hauptamtlicher Kreisbeigeordneter im Landratsamt auch für den Bereich „Ausländer und Migration“ zuständig. Hätten Sie vor 15 Monaten gedacht, dass das Thema Flüchtlinge Sie so in Atem halten wird?

Bergstraße. Matthias Schimpf: Schon kurz nach Beginn meiner Amtszeit habe ich darauf hingewiesen, dass wir hier ein Problem bekommen werden. Vorher wurde das Thema im Kreis eher wenig öffentlich diskutiert.

Hat der Kreis denn zu spät auf die Entwicklung reagiert?

Schimpf: Nein, wir haben früh angefangen, uns darum zu kümmern. Die Situation hat sich jedoch im Lauf der Monate verändert. Seit Februar 2022 kamen zahlreiche Flüchtlinge aus der Ukraine, ab dem Sommer (2022) ist die Zahl an Neuankömmlingen aus der Ukraine zurückgegangen. Dafür hat die Fluchtbewegung aus sogenannten Drittstaaten deutlich zugenommen. Derzeit kommen wöchentlich rund 86 Flüchtlinge neu in den Kreis Bergstraße.

Dass die Entwicklung aus Sicht des Kreises und der Kommunen nicht so weitergehen kann, haben Sie in den vergangenen Monaten vielfach deutlich gemacht. Wie sollten denn Ihres Erachtens Bund und Länder reagieren, um den weiteren Zustrom von Geflüchteten zu regulieren?

Schimpf: Leider wird es nicht den einen Gamechanger geben. Wir brauchen ein ganzes Bündel an Maßnahmen. Da wären zum einen wirksame Kontrollen, wer zu uns ins Land kommt. Dazu sind stationäre und mobile Grenzkontrollen nötig. Dazu muss schon an den EU-Außengrenzen kontrolliert werden, ob ein Aufenthaltsstatus innerhalb der Europäischen Union wahrscheinlich ist. Menschen, bei denen die Gewährung von Asyl eher unwahrscheinlich ist, sollten bis zur Klärung in Registrierungsunterkünften an der EU-Außengrenze untergebracht werden. Dort müssen natürlich rechtsstaatliche und humanitäre Regeln gelten. Es handelt sich nicht um Gefängnisse. Nur die Weiterreise in die EU wird zunächst unterbunden.

Newsletter "Guten Morgen Bergstraße"

Stehen diese Ideen nicht gegen die Grundauffassung vieler Mitglieder Ihrer Partei?

Schimpf: Mir war es immer wichtig, darauf zu achten, dass es bei den Flüchtlingen um Menschen geht. Allerdings müssen wir uns auf diejenigen konzentrieren, die tatsächlich Schutz bedürfen. Wir müssen uns fragen, ob das, was wir aktuell tun, eigentlich noch human ist. Die Geflüchteten werden in immer schwierigeren Verhältnissen untergebracht. Eine bessere Verfahrensweise gelingt uns nicht, weil so viele Menschen zu uns kommen.

Die Verantwortlichen im Kreis beschönigen nichts und benennen offen die Probleme. Wir brauchen Transparenz und Realismus. Populistische, falsche Aussagen wie die von Friedrich Merz (CDU-Partei- und Bundestagsfraktionschef) angestoßene Zahnarztdebatte sind da nicht dienlich, ebenso wie das Beschönigen oder Negieren der Situation durch Nancy Faeser.

Auch innerhalb der Grünen machen wir derzeit deutlich, dass wir als kommunale Familie ein Problem haben. Ich habe an zwei Telefonschalten teilgenommen, bei denen sich Kommunalpolitiker zunächst mit Robert Habeck (Die Grünen, Vizekanzler), dann mit Annalena Baerbock (Die Grünen, Außenministerin) und Omid Nouripour (Die Grünen, Bundesvorsitzender) ausgetauscht haben. In Berlin muss man verstehen, dass wir vor Ort faktisch am Ende sind.

Glauben Sie denn, dass es kurzfristig eine Lösung geben kann?

Schimpf: Wir haben schon frühzeitig auf das Thema hingewiesen. Geschehen ist lange nichts. Bis Mai hatte die Bundesregierung sogar bestritten, dass es überhaupt ein Problem gibt. So haben wir mindestens acht bis zehn Monate verloren. Da liegt die Verantwortung nicht bei den Landkreisen.

Würde denn eine Verringerung von Anreizen die Zahl der Flüchtlinge verkleinern?

Schimpf: Ob es etwas bringt, alleine bei diesen sogenannten Pullfaktoren anzusetzen, halte ich für fraglich. Die Leistungen an Flüchtlinge im Asylverfahren sind in vielen anderen Ländern vergleichbar, allerdings bei negativer Asylentscheidung deutlich anders.

In der Praxis ist Vieles auch schwer umsetzbar. Eine angedachte Umstellung von Geld- auf Sachleistungen wäre in einem Flächenkreis wie dem unsrigen nicht zu bewerkstelligen. Das geht nur in großen Erstaufnahmeeinrichtungen. Auch die Ausgabe von Gutscheinen ist problematisch. Die müssten nicht nur fälschungssicher produziert, sondern auch von einer Großzahl an Geschäften akzeptiert werden.

Praktikabler wäre da die Ausgabe einer Geldkarte für Flüchtlinge, die nur zum Einkaufen, nicht aber zur Bargeldbeschaffung oder Geldtransfers verwendet werden kann. Wir hatten dazu bereits Gespräche mit den regionalen Sparkassen und Volksbanken, die jedoch noch keine praktikable Lösung anbieten konnten. Wichtig ist, dass ein solches Verfahren einheitlich und rechtssicher geregelt wird.

Wie wirkt sich die Flüchtlingsproblematik im Alltag auf die Arbeit der Bergsträßer Kreisverwaltung aus?

Schimpf: Für die Mitarbeiter ist das schwierig. Sie haben das Gefühl: „Es nimmt kein Ende“. Jeden Tag wird der Berg an Arbeit größer. Der Personalschlüssel sieht im Flüchtlingswesen eigentlich einen Beschäftigten pro 120 Geflüchteten vor. Doch wir können längst nicht so viele Mitarbeiter einstellen, wie wir benötigen. Wir finden kaum Bewerber. Gerade auch in dem Ausländeramt oder beim Jobcenter benötigen wir sehr qualifizierte Beschäftigte. Gerne würden wir im Landratsamt wieder mehr gestalten als nur Notstände zu verwalten. Doch das ist derzeit kaum möglich.

In den Kommunen des Kreises ist man ebenfalls am Limit bei der Unterbringung der zugewiesenen Geflüchteten. Was kann auf kommunaler Ebene getan werden, wenn die Zahl der in den Kreis kommenden Flüchtlinge nicht weniger wird?

Schimpf: Wir schaffen derzeit bei der Unterbringung sehr viele Provisorien. Letztlich muss die Unterbringung der Menschen auch städtebaulich gelöst werden. Hier muss man über die Aufhebung von Flächenrestriktionen nachdenken, um auch im Außenbereich mehr neue Baugebiete ausweisen zu können. Dann aber nur anlassbezogen.

Hier geht es im Wesentlichen um die Schaffung von neuen, bezahlbaren Wohnraum und nicht um Einfamilienhäuser. Alleine durch eine Nachverdichtung im Innenbereich der Städte und Gemeinden wird es nicht gelingen, das Problem zu lösen. Schon der Entwurf des neuen Regionalplans sieht da zu wenig Flächen vor, um dem aktuellen Wohnungsbedarf gerecht zu werden. Landrat Christian Engelhardt und ich setzen uns dafür ein, dass es hier für den Kreis Verbesserungen gibt.

Bilanz nach über einem Jahr Amtszeit

  • Seit August 2022 bildet der Mathias Schimpf (Die Grünen) zusammen mit Landrat Christian Engelhardt und der Ersten Kreisbeigeordneten Diana Stolz (beide CDU) die Kreisspitze im Bergsträßer Landratsamt.
  • Als hauptamtlicher Kreisbeigeordneter ist Schimpf als Dezernent für das Thema „Ausländer und Migration“ zuständig. Das Thema beschäftigt ihn nach eigener Aussage zu über 50 Prozent seiner Arbeitszeit. Somit stand es auch im Mittelpunkt des Redaktionsgespräches mit dieser Zeitung.
  • Zuständig ist er aber auch für die Bereiche „Finanzen“, „Soziales“, „Veterinärwesen und Verbraucherschutz“ „Ordnungs- und Gewerbewesen“ sowie in Teilbereichen für „Bauaufsicht und Umwelt“ sowie „Straßenverkehrswesen“.
  • Schimpf war von 2001 bis 2011 hauptamtlicher Stadtrat der Stadt Bensheim und von 20011 bis 2016 schon einmal hauptamtlicher Kreisbeigeordneter.
  • Eigentlich wäre es bereits im Sommer an der Zeit gewesen, eine Bilanz nach einem Jahr Amtszeit zu ziehen. Mit Blick auf den Wahlkampf wurde das Gespräch mit unserer Redaktion jedoch auf die Zeit nach der Landtagswahl am 8. Oktober verlegt. kel

Das Thema Flüchtlinge hat den Kreis Bergstraße in den vergangenen Monaten immer wieder in die überregionalen Medien gebracht. Wie kam es dazu?

Schimpf: Den Anfang hat die im vergangenen November und Dezember produzierte zweiteilige ZDF-Dokumentation („Wohin mit den Flüchtlingen? Gemeinden am Limit“) gemacht. Darin wurde der Kreis Bergstraße prominent dargestellt. Daraufhin gab es zahlreiche Anfragen - etwa von Stern TV, ZDF-Nachrichtensendungen oder überregionalen Printmedien wie der FAZ oder dem Spiegel.

Und letztlich auch die Runde bei der Talkshow Markus Lanz. Ich hatte ja schon während meiner ersten Amtszeit als hauptamtlicher Kreisbeigeordneter (2011 bis 2016) Erfahrungen mit einer größeren Öffentlichkeit gemacht, zum Beispiel als es um den Abriss der sogenannten Trutzburg oder um die Missbrauchsfälle in der Odenwaldschule ging. Aktuell bin ich dankbar dafür, dass ich beim Thema Flüchtlinge in der Öffentlichkeitsarbeit sehr viel Unterstützung von und durch Christian Engelhardt bekomme.

Apropos: Wie bilanzieren Sie nach über einem Jahr die Zusammenarbeit in der neu zusammengesetzten Kreisspitze?

Schimpf: Das läuft sehr gut. Christian Engelhardt, Diana Stolz und ich haben viele Verbindungen. Wenn die persönliche Komponente stimmt, macht das natürlich Vieles einfacher. Der Umgang miteinander ist entspannt. Es gibt fast keinen Arbeitstag, an dem Christian Engelhardt und ich nicht auch einmal über etwas Privates sprechen und gemeinsam lachen können.

Und wie nehmen Sie die Zusammenarbeit von CDU und Grünen in der Kreiskoalition wahr? Funktioniert das besser als die Ampel in Berlin?

Schimpf: Bei Koalitionen kommt es besonders auf die Verlässlichkeit an. Und das ist bei Schwarz-Grün häufig der Fall. Für die Erarbeitung des Koalitionsvertrags im Kreis hatten sich die Vertreter der beiden Parteien viel Zeit genommen. Jetzt stehen die beiden Partner zu den getroffenen Vereinbarungen, auch wenn nicht jeder Punkt exakt den eigenen Wünschen entspricht. Man muss hier auch gönnen können. Die Bürger erwarten ohnehin in erster Linie, dass die Kreisverwaltung und Politiker ihre Arbeit erledigen.

Gleichzeitig zu ihrer hauptamtlichen Tätigkeit als Kreisbeigeordneter engagieren sie sich auch als Vorstandssprecher der Bergsträßer Grünen und als Grünen-Fraktionsvorsitzender in Lorsch. Kommt es da nicht ab und an zu einem Widerstreit der Interessen, etwa wenn es um die Unterbringung von Flüchtlingen in Lorsch geht?

Mehr zum Thema

Politik

Matthias Schimpf kritisiert Migrationspaket der Bundesregierung

Veröffentlicht
Mehr erfahren
Landratsamt

Bergsträßer Kreishaushalt wird erst im Dezember eingebracht

Veröffentlicht
Von
Jörg Keller
Mehr erfahren

Schimpf: Ich versuche, meine berufliche Tätigkeit und meine ehrenamtlichen Ämter so weit wie möglich zu trennen, aber unabhängig von der jeweiligen Rolle eine einheitliche Meinung zu vertreten. In Lorsch wurden Projekte zur Unterbringung von Flüchtlingen schon früh angegangen. Doch auch hier besteht das Problem: Lorsch hat derzeit keine Flächen, um längerfristige bauliche Lösungen zur Unterbringung der Menschen zu finden.

Sollte die Kreisumlage bereits im kommenden Jahr erhöht werden, was nach Ihrer Aussage noch nicht entschieden ist, dürfte das Lorsch und andere Kommunen im Kreis weiter finanziell belasten. Dabei stehen gerade in den kommenden Jahren mit den vielerorts selbst auferlegten Verpflichtungen zur Klimaneutralität hohe Investitionen an.

Schimpf: Es ist wichtig, dass die Kommunen das Thema Klimaschutz auf dem Schirm haben. Es gibt aber Faktoren, die dazu beitragen, dass gesteckte Ziele schwieriger zu erreichen sind als zunächst gedacht. Wir hatten zunächst die Pandemie, dann den Ukraine-Krieg mit seinen Folgen und schließlich aktuell den Migrationsdruck. Krisen fragen eben nicht, ob sie gerade gelegen kommen.

Neben dem Thema Flüchtlinge haben sie als Dezernent noch die Verantwortung für weitere Bereiche. Was ist Ihnen dabei besonders wichtig?

Schimpf: Im Bereich des Verbraucherschutzes haben wir beispielsweise die Lebensmittelkontrollen aufgerüstet. Auch beim Thema Tierwohl und Tierschutz sind wir sehr aktiv. Doch das alles tritt aktuell in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund.

Redaktion Redakteur, Ressorts Lorsch, Einhausen und Region

Copyright © 2025 Bergsträßer Anzeiger