Bergstraße. Für Millionen Menschen in Praxen, Kliniken und Apotheken soll sie jetzt in den Alltag kommen: die elektronische Patientenakte, kurz ePA. Nach vielen Verzögerungen ging das Großprojekt am Mittwoch an den Start. Wichtige Gesundheitsdaten wie Befunde und Medikamente sollen damit standardmäßig digital parat stehen – es sei denn, man lehnt es für sich ab.
Vor dem bundesweiten Einsatz steht aber noch eine Testphase in drei Modellregionen. In Hamburg mit Umland und in Franken sollen mehr als 250 Praxen, Apotheken und Kliniken loslegen und Daten einstellen. Eine dritte Region ist in Nordrhein-Westfalen. Wenn das System in den Regionen stabil funktioniert, soll es auch bundesweit losgehen. Klar sein soll das frühestens nach vier Wochen – also voraussichtlich nicht vor Mitte Februar. Dann soll auch die technische Anbindung in 150 000 Gesundheitseinrichtungen in der ganzen Republik startbereit sein. Gerechnet wird mit mehr als 70 Millionen E-Akten. Auch an der Bergstraße beschäftigen sich die Ärzte und Krankenhäuser mit der Einführung der ePA.
Forderung nach übersichtlicher Software
Der Heppenheimer Hausarzt Heiko Mikkat (Foto), Facharzt für Innere Medizin und Notfallmedizin, begrüßt die Einführung der ePA: „Wir wollen zum Mars fliegen, nutzen aber in der Medizin immer noch Faxgeräte.“ Wichtig ist für den Arzt allerdings, dass die ePA im Praxisalltag einfach und übersichtlich zu pflegen ist: „Die ePA sollte auch von den Ärzten möglichst einheitlich geführt werden. Wenn sich die Dokumente und Befunde in der ePA ansammeln, muss ich mich als Arzt schnell orientieren und gewünschte Daten finden können. Wenn das nicht der Fall ist, wird sich die ePA im Alltag nicht durchsetzen. Dann zieht man die Dokumente zwar digital in die Akte, aber keiner schaut mehr rein, wenn die Informationen schlecht auffindbar sind.“
Heiko Mikkat wünscht sich auch eine möglichst ausgereifte Software und dass auch Vorschläge aus der Praxis ernst genommen werden, um die ePA zu optimieren: „Ich stelle mir auch die Frage, inwiefern es Auswirkungen hat, wenn der Patient durch das Löschen von Befunden das Bild, das ich mir als Arzt aufgrund der ePA mache, verfälscht oder beschönigt wird.“
Bei der Vorbereitung auf die Einführung der ePA sieht Heiko Mikkat Defizite: „Es hängt sehr vom Engagement des einzelnen Arztes ab, inwieweit man sich in das Thema einarbeitet. Und die guten Informationen kamen recht kurzfristig erst im Dezember. Die Einführung wirkt etwas überstürzt – ebenso wie die angekündigte, kurze Testphase von etwa vier Wochen, bevor die ePA deutschlandweit eingeführt wird.“
Im Bereich Datenschutz sieht Heiko Mikkat weniger das Problem in Hackern, sondern eher in menschlichen Fehler im Praxisalltag: „Wenn es in den Praxen stressig ist, kann man nicht ausschließen, dass möglicherweise ein Befund in der falschen ePA landet. Da ist wirklich Vorsicht geboten.“
Kein Vertrauen in Datenschutz und technische Zuverlässigkeit
Der Heppenheimer Hausarzt Michael Reich (Foto) lehnt die ePA in der jetzt eingeführten Version ab. Er hält die vier wöchige Testphase für „absurd kurz“. Die Praxis arbeite bereits seit über 30 Jahren mit einer elektronischen Patientenakte, die aber dezentral und mehrfach verschlüsselt abgelegt sei: „Bei der ePA liegen alle Daten aller deutschen gesetzlich Versicherten in einem einzigen Rechenzentrum in Deutschland, was dieses sehr interessant macht für Hacker aus allen Ländern,“ so Michael Reich.
Widerspruchsquote liegt im Schnitt bei fünf Prozent
„Die elektronische Patientenakte ist ein virtueller Aktenordner, in den künftig die Gesundheitsdaten von uns Patienten hineinkommen“, sagt Sabine Wolter von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Anfangs ist die Akte noch leer. Ärzte sind zwar dazu verpflichtet, aktuelle Behandlungsunterlagen dort einzustellen. Ältere Befunde müssen sie aber nicht hochladen. Versicherte haben allerdings die Möglichkeit, das selbst zu tun oder ihre Krankenkasse darum zu bitten.
Die Arztpraxis, die Physiotherapeutin oder das Sanitätshaus bekommen über das Auslesen der elektronischen Gesundheitskarte Zugriff auf die Daten, die in der ePA liegen und die für sie sichtbar sind. „Wer die vollen Möglichkeiten nutzen will, braucht die Epa-App seiner Krankenkasse“, sagt Sabine Wolter. Alternativ soll auch die Möglichkeit geschaffen werden, sich über eine Browser-Anwendung am PC Zugang zur ePA zu verschaffen.
Die Elektronische Gesundheitskarte muss mit NFC-Funktion ausgestattet sein: „Die erkennt man daran, dass sich ein kleines Funkwellen-Symbol auf der Karte befindet“, sagt Wolter. Die Pin müssen Versicherte bei ihrer Krankenkasse anfordern – das kann man auch vorab schon tun. „Die bekommen Sie allerdings nicht einfach so per Post zugeschickt, sondern Sie müssen sich authentifizieren“, sagt Wolter.
Nicht jeder Arzt, der auf die ePA zugreift, kann alles sehen, was dort abgelegt ist
Gängig ist das Postident-Verfahren, bei dem man sich in der Postfiliale vor Ort mit dem Personalausweis legitimiert. Das Endgerät braucht die mobilen Betriebssysteme Android 10 oder iOS 16 sollten es auf dem Smartphone mindestens sein. „Beim PC braucht man ein Kartenlesegerät mit Sicherheitsstufe zwei“, sagt Wolter. Längst nicht jedem erscheint dieser Prozess leicht: „Die App freizuschalten, erfordert Frustrationstoleranz“, schreibt die Zeitschrift „Finanztest“ (Ausgabe 1/2025). Wer Unterstützung braucht, kann sie bei seiner Krankenkasse bekommen: Die Kassen sind verpflichtet, Ombudsstellen einzurichten, die bei der Einrichtung unterstützen.
Nicht jeder Arzt, der auf die ePA zugreift, kann dann alles sehen, was dort abgelegt ist. Wer also nicht möchte, dass die Zahnärztin von der Psychotherapie erfährt, kann dafür sorgen. Der Zeitschrift „Finanztest“ zufolge ist es sogar sinnvoll, bei den Zugriffsrechten nachzujustieren, denn viele Versicherte seien sich der sehr weitreichenden Voreinstellungen nicht bewusst.
Patienten können zudem in der Sprechstunde bestimmen, wenn ein Befund nicht in die Akte hinein soll. Bei sensiblen Daten müssen sie auch ausdrücklich auf dieses Widerspruchsrecht hingewiesen werden. Übrigens: „Man kann auch die Dauer der Zugriffsrechte verändern“, sagt Sabine Wolter. „Standardmäßig sind in der ePA für Arztpraxen 90 Tage Zugriffsrecht eingestellt. Wenn die Karte dort eingelesen wird, startet diese Zeit.“ Für Apotheken sind standardmäßig drei Tage Zugriffsrecht programmiert.
Einen Schub bringen soll die E-Akte für die Forschung
Auch Kinder bekommen eine ePA. „Ein Baby, das im März auf die Welt kommt, würde mit Beginn seiner gesetzlichen Familienversicherung eine ePA eingerichtet bekommen. Die verwalten dann natürlich die Eltern“, sagt Sabine Wolter. Ab dem 15. Geburtstag kann das Kind selbst über seine ePA entscheiden. Die Nutzung der ePA ist und bleibt freiwillig. Wer nicht möchte, dass eine für ihn oder sie eingerichtet wird, sollte rechtzeitig widersprechen. Über den genauen Weg informiert man sich dabei bei der eigenen Krankenkasse. Die Widerspruchsquote liegt laut Kassen-Spitzenverband im Schnitt bei fünf Prozent.
„Das Schutzniveau ist schon sehr hoch“, so Wolter. „Die Daten werden schließlich nicht per Mail verschickt, sondern über die spezielle Telematikinfrastruktur, die eine Art geschlossenes Datensystem im Gesundheitswesen ist.“ Sowohl Ärzte als auch Patienten müssen sich identifizieren: „Im Netz ist nie alles hundertprozentig sicher“, so Wolter. Der Chaos Computer Club hat vor Angriffsmöglichkeiten gewarnt. Daraufhin kündigte die mehrheitlich bundeseigene Digitalgesellschaft Gematik Lösungen an, um derartige Szenarien zu unterbinden. Gespeichert werden die Daten laut Ministerium auf Servern in Rechenzentren im Inland innerhalb der geschützten Datenautobahn des Gesundheitswesens. Generell wird jeder Zugriff auf die ePA mit Datum und Uhrzeit protokolliert. In die ePA hochzuladen sein sollen nur Dateiformate, die keine Viren übertragen.
Einen Schub bringen soll die E-Akte übrigens für die Forschung. Geplant ist, dass von Juli 2025 an Daten der ePAs für Forschungswecke an eine zentrale Stelle weitergeleitet werden. Die Daten werden dafür pseudonymisiert verwendet, wie das Ministerium erläutert – also ohne direkt personenbeziehbare Angaben wie Name und Adresse. Versicherte können aber auch dieser Nutzung widersprechen.
Übrigens: Der Gematik zufolge haben die Krankenkassen selbst keinen Zugriff auf die ePA – nur Patienten und Ärzte bzw. andere Heilberufler können die Daten, die darin liegen, einsehen. dpa
Er führt auch mangelnde Transparenz an: „Viele Patienten sind über den genauen Inhalt der ePA und die Verwendung ihrer Daten durch Dritte (z.B. Versicherungen oder Pharmaunternehmen) im Unklaren.“ Außerdem rechnet Michael Reich mit technischen Problemen: „Es haben ja das E-Rezept und die E-AU gezeigt, die mal funktionieren und dann wieder nicht. Dumm wird dies, wenn die Daten dringend benötigt werden, man sich darauf verlässt und im „Ernstfall“ dies nicht möglich ist.“ Michael Reich merkt an, dass auch ein Widerspruch zu kompliziert sei und viele Patienten damit überfordert seien.
Die ePA müsse gewissenhaft gepflegt werden
Für Dr. Michael Rodenbach, Ärztlicher Direktor bei den Zeropraxen und tätig als Kardiologe im Fachärztlichen MVZ Bergstraße in Bensheim., ist die flächendeckende Einführung der ePA ein längst überfälliger Schritt. Schließlich hätten gesetzlich Versicherte bereits seit dem 1. Januar 2021 die Möglichkeit, von ihrer Krankenkasse eine elektronische Patientenakte zu erhalten: „Denn sie kann das ärztliche Arbeiten und die Patientenversorgung deutlich verbessern. In unserem Gesundheitssystem werden von vielen Akteuren Daten erhoben, Medikamente und Maßnahmen verordnet, die die jeweils anderen Akteure gar nicht oder nur begrenzt einsehen können. Das können Arztpraxen, Krankenhäuser oder Psychotherapeuten sein. Mit der ePA können im Idealfall alle schnell Einsicht nehmen in Diagnosen, Medikationspläne und Untersuchungsergebnisse und somit noch besser begründete Entscheidungen treffen.“
Das könne gerade in Facharztpraxen viel verbessern und wertvolle Zeit sparen. Das betrifft auch mögliche Wechselwirkungen von verschriebenen Medikamenten, wie Michael Rodenbach (Foto) erklärt: „Außerdem entfallen aufwendige Doppeluntersuchungen, wenn in der Akte bereits Voruntersuchungen von Kollegen aus dem gleichen Fachgebiet vermerkt sind. Hat beispielsweise der Hausarzt bereits Blut abgenommen, kann ich die Werte einfach abrufen und schneller eine Therapie einleiten. Für mich als Kardiologe ist vor allem auch wichtig zu sehen, welche Krankenhaus-Voraufenthalte bestehen und welche Entscheidungen dort im Entlassbrief genannt werden, damit ich mit meiner fachärztlichen Tätigkeit daran anknüpfen kann. Nur so kann ich nachher wiederum meinen hausärztlichen Kollegen verlässliche Empfehlungen für Weiterbehandlung geben. Insgesamt verbessert sich also auch die Zusammenarbeit von Haus- und Fachärzten.“
Für die Patienten bedeute die ePA zudem Selbstbestimmung: „Sie können selbst digital und jederzeit ihre Behandlungshistorie nachverfolgen. Dabei können sie selbst entscheiden, welche Daten hochgeladen werden und wer diese für wie lange einsehen kann. Allerdings steht und fällt der Erfolg der ePA mit der erfolgreichen technischen Umsetzung. Da sehen wir aktuell noch große Hürden.“
Aktuell seien seitens der Gematik, der nationalen Agentur für digitale Medizin, und Ärzteverbände bereits umfangreiche Informationen und Schulungen zu erhalten. Allerdings sei die technische Umsetzung und die Anbindung der ePA an die unterschiedlichen Praxisverwaltungssysteme noch nicht ausreichend geklärt:
„Wie auch schon beim e-Rezept stellt die praktische Umsetzung die größte Schwierigkeit dar. Auch die aktuelle Diskussion um die Datensicherheit muss noch geklärt werden. Es ist schon sehr ambitioniert, solch ein großes Projekt wie die ePA innerhalb kurzer Zeit in den Praxen umzusetzen bei sowieso schon hoher Auslastung des Praxisbetriebs.“ Eine weitere Herausforderung sei die gewissenhafte Pflege der ePA. Das betreffe zum einen die Arztpraxen, die die Akte ihrer Patienten befüllen. Zum anderen aber auch die Patienten. Um Dokumente von früheren Behandlungen in die Akte einzupflegen, müssen sie diese selbst in ihre Akte hochladen.
Technische Fehler müssen noch behoben werden
Auch am Kreiskrankenhaus Bergstraße in Heppenheim beschäftigen sich die Mitarbeiter mit der Einführung der ePA. Auf Nachfrage teilt die Einrichtung mit, dass die ePA für die Ärzte im Krankenhaus und damit letztlich für die Patienten große Vorteile bringen kann: „Wenn Patienten etwa über die Notaufnahme eingeliefert werden und durch ihr Krankheitsbild nicht mehr ansprechbar sind, können Vorerkrankungen oder regelmäßige Medikamenteneinnahmen sofort eingesehen und die Behandlung entsprechend angepasst werden. Bisher war die Beschaffung dieser Informationen in solchen Fällen oftmals nur durch aufwendige, zeitintensive Recherchen seitens des Krankenhauses möglich.“
Die technische Einführung stelle aber ein Zusammenspiel vieler Akteure dar. Zum einen müssten die Softwarehersteller derzeit umfangreiche Neuprogrammierungen durchführen: „Durch die dezentralen Strukturen werden hier derzeit noch technische Fehler aus den Pilotregionen bei einzelnen Krankenkassen gemeldet. Dies kann zu Schwierigkeiten in der Anwendung führen. Eine zeitnahe, flächendeckende Einführung der ePA birgt daher noch zahlreiche Herausforderungen.“
Vor einer Einführung sollten zudem die Bedenken zum unerlaubten Datenzugriff von Seiten der Politik und der Softwareanbieter vollständig ausgeräumt werden.
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