Gericht

Messerattentat Mannheim: Psychiater stellt Gutachten zu Angeklagtem vor

Im Prozess gegen Sulaiman A., den Angreifer vom Mannheimer Marktplatz, hat der psychiatrische Sachverständige sein Gutachten vorgestellt. Was darin steht.

Von 
Sebastian Koch
Lesedauer: 
Im Prozess gegen Sulaiman A. (l. im roten Oberteil) wurde das psychiatrische Gutachten vorgestellt. © Martin Burkhardt

Mannheim. Wie blickt man in einen Menschen hinein? Wie erkennt man, was ihn antreibt, in ihm wütet, ihn positiv ausmacht oder womöglich zur Gefahr macht? Und wie prognostiziert man, wie sich ein Mensch in der Haft entwickelt? Es sind Fragen von schmerzlicher Tiefe – und enormer Tragweite. Wer sie beantworten muss, stößt mitunter an Grenzen und muss auch hin und wieder eingestehen, eben keine Antwort zu haben. Beim Prozess gegen den seinerzeit in Heppenheim wohnenden Sulaiman A. nach dem Messerattentat vom Mannheimer Marktplatz am 31. Mai 2024 vor dem Oberlandesgericht muss sich der Psychiatrische Sachverständige Johannes Fuß am Dienstag diesem Labyrinth an Fragen stellen.

Gespannt erwarten der Vorsitzende Richter des Senats, Herbert Anderer, Bundesanwaltschaft, Nebenklage sowie Sulaiman A. und seine Verteidiger am Dienstag in Stuttgart-Stammheim sein Gutachten. Auch der Zuschauerraum ist gut gefüllt. Folgerichtig stellt Anderer bei der routinemäßigen Feststellung der Anwesenheiten fest, dass mit Fuß die „wichtigste Person an diesem Tag“ erschienen ist.

Fuß leitet das Institut für Forensische Psychiatrie und Sexualforschung an der Universität Duisburg/Essen. Bevor er auf diese, wie Anderer sagt, „renommierte“ Position kam, hat er in Heidelberg Medizin studiert und später unter anderem zeitweise am ZI in Mannheim gearbeitet.

Keine Störungen bei Sulaiman A. festgestellt

Der Psychiater hat den Großteil der Verhandlung im Gerichtssaal verfolgt. Für sein Gutachten hat er Sulaiman A. zudem in mehrstündigen Gesprächen zweimal „exploriert“. A. sei höflich und kooperativ gewesen, erzählt Fuß. Seine „gewählte Ausdrucksweise“ und sein Auftreten zeugten von einer „mindestens durchschnittlichen Intelligenz“. Sulaiman A. zeige eine „Leidenschaft für Wissen“.

Der Angeklagte Sulaiman A. zu Prozessbeginn. © Martin Burkhardt

Hinweise auf depressive Symptomatiken hat der Mediziner ebenso wenig feststellen können wie eine Psychose oder andere Störungen. Auch im Video der Tat konnte er keine derartigen Anzeichen erkennen. Stattdessen weist der Angeklagte einen starken Hang zum Narzissmus auf – allerdings nicht so stark, dass das eine psychische Störung sei. Sulaiman A. zeige ein „hohes Streben nach Größe und Bedeutsamkeit“, attestiert Fuß. Ihn beschäftigten Fragen nach dem Sinn des Lebens oder wie man im Leben einen Fußabdruck hinterlassen könne. Mit seinem stark ausgeprägten Narzissmus gehe ein Mangel an Empathie anderen Menschen gegenüber einher. Das wolle der Psychiater aber auch „nicht überbewerten“, erklärt Fuß. „Die meisten Menschen, die Straftaten begehen, zeigen diesen Mangel.“

Was bedeutet nun dieser Befund? Unterbrochen von der Mittagspause, befragen Anderer und seine Richterkollegen Fuß mehr als fünf Stunden lang. Das Gutachten spielt eine wichtige Rolle bei der Frage, ob für Sulaiman A. im Falle einer Verurteilung eine Sicherungsverwahrung in Betracht kommt.

Kommt eine Sicherungsverwahrung in Betracht?

Für die muss ein Verurteilter nach Ansicht des Gerichts unter anderem einen „Hang zu erheblichen Straftaten“ haben und „für die Allgemeinheit gefährlich“ sein, zitiert Anderer Paragraf 66. Ob das auf A. zutrifft? Immer wieder verweist Fuß auf die dünne Studienlage zu Rückfallraten nach Terroranschlägen. Für die wissenschaftliche Beurteilung komme erschwerend hinzu, dass Sulaiman A. als vergleichsweise gut integriert galt: Er spricht Deutsch, hat eine Familie, war im Sportverein erfolgreich, besuchte die Abendschule. Die Tat stehe im Gegensatz zur Familien- und Urlaubsplanung. „Er hat zwei völlig unterschiedliche Lebenswege verfolgt.“

Weil die Studienlage kaum belastbar sei, stützt der Wissenschaftler sein Gutachten vor allem auf persönliche Begegnungen mit dem Angeklagten. So berichtet Fuß, dass Sulaiman A. Reue und Betroffenheit gezeigt habe – allerdings weniger den Opfern gegenüber, sondern mehr, weil sein Lebensweg eine Wendung genommen hat. Sulaiman A. könne die Folgen für die Opfer nicht gänzlich umfassen, sagt Fuß. Der Angeklagte sei außerdem über die Tragweite und die öffentliche Betrachtung der Tat überrascht gewesen. Der Psychiater hält das für „plausibel“, weil Sulaiman A. durch einen gewalttätigen Vater, den Krieg in seinem Herkunftsland Afghanistan und der Flucht ein anderes Verständnis zu Gewalttaten habe als hierzulande üblich. Gleichzeitig soll er sich in der Haft nach Einschätzung des Psychiaters von islamistischem Gedankengut „plausibel“ distanziert haben.

Fuß erklärt zwar, dass er „keine Hang-Täterschaft“ feststellen könne und auch aus der wissenschaftlich – allerdings dünnen – Datenlage eine Rückfallwahrscheinlichkeit eher gering sei. Und trotzdem scheint die Frage einer womöglichen weiteren Gefahr nicht so einfach zu beantworten zu sein. Das wird im Laufe der Befragung klar. Kontrovers arbeiten Fuß und Anderer über Stunden daran, Sulaiman A.s Psyche zu ergründen. Der verfolgt die Diskussion weitestgehend ohne sichtbare Regung.

Befragung wird fortgesetzt

Fuß beschreibt Sulaiman A.s Persönlichkeit als „fragil“. Es sei „fraglich“, wo er Leitplanken finden könnte, die ihn stabilisieren. So war bereits die familiäre Bindung nicht ausreichend, um dem narzisstischen Streben zu begegnen. Zudem hege Sulaiman A. eine Faszination für gute Rhetorik. Er bewundere diesbezüglich FDP-Politiker Christian Lindner – oder OR. Der noch immer Unbekannte hat in Telegram-Chats maßgeblich zur Radikalisierung von Sulaiman A. beigetragen. Der Angeklagte soll über OR gesprochen haben wie über eine Liebe, erzählt der Psychiater.

Sulaiman A. reagiere außerdem „sehr stark“ auf digitale Darstellungen von Gefühlen. Dies habe sich auch bei der Radikalisierung gezeigt. Der Angeklagte hatte erklärt, dass Videos aus Gaza ihn berührt und auf eine prekäre Lage von Muslimen aufmerksam gemacht hätten. Sulaiman A. könne Dinge, die er digital sieht und erlebt, kaum kritisch hinterfragen, sagt Fuß.

Mehr zum Thema

Justiz

Mannheimer Messerattentat: Das sagt die Frau des Angeklagten

Veröffentlicht
Von
Agnes Polewka
Mehr erfahren
Justiz

Messerattentat Mannheim: Wichtiger Zeuge muss nicht aussagen

Veröffentlicht
Von
Agnes Polewka
Mehr erfahren
Mannheimer Messerattentat

Polizeipräsidentin: „Rouven Laur war ein besonderer Mensch“

Veröffentlicht
Von
Agnes Polewka
Mehr erfahren

Der Psychiater sieht die Radikalisierung – und keine klassischen wissenschaftlichen Merkmale – als Hauptfaktor für eine womögliche Gefahr, die von Sulaiman A. weiter ausgehen könnte. A. habe sich radikalisiert, als die Beziehung mit seiner Ehefrau auch wegen der Herzerkrankung des gemeinsamen Sohns gelitten hatte. Er habe sich einsam gefühlt und keine Möglichkeiten gesehen, sich auszutauschen. In dieser „krisenhaften Selbstsituation“ sei die Tat geschehen, um sich selbst zu belohnen. Ob nun aber die Einsamkeit die Radikalisierung begünstigt hat oder die Radikalisierung zur Einsamkeit geführt hat, ist unklar. „Radikalisierung und Einsamkeit gehen bei Sulaiman A. wechselseitig Hand in Hand“, erklärt der Psychiater.

Die Befragung ist anstrengend und herausfordernd. Der Senat will Fuß‘ Einschätzung zu vielen Konstellationen erörtern, die in unterschiedlichen Lebensumständen eintreten könnten. „Es ist ein unglaublich komplizierter und schwieriger Komplex“, stellt am späten Nachmittag Richter Anderer schließlich fest. An diesem Donnerstag soll die Befragung fortgesetzt werden. Dann sollen auch Anklage, Nebenklage und Verteidigung ausführlich Fragen stellen können.

Redaktion Reporter in der Lokalredaktion Mannheim & Moderator des Stotterer-Ppppodcasts

Copyright © 2025 Bergsträßer Anzeiger

VG WORT Zählmarke