Tag der Deutschen Einheit

Als die Stasi an der Bergstraße geflüchtete Schüler überwachte

300 Jugendliche sahen im Luxor-Kino den Film „Das schweigende Klassenzimmer“ und kamen mit dem Zeitzeugen Karsten Köhler ins Gespräch

Von 
Gerlinde Scharf
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Zeitzeuge Karsten Köhler berichtete im Luxor-Kino über die Flucht seiner Schulklasse aus der DDR an die Bergstraße. © Thomas Neu

Bergstraße. Mit offensichtlicher Betroffenheit, Fremdheit, Respekt und großem Interesse reagierten rund 300 Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Bergsträßer Gymnasien auf die Sondervorführung des Kinofilms „Das schweigende Klassenzimmer“. Dieser erzählt die authentische Geschichte einer Abiturklasse aus dem kleinen Ort Storkow in der ehemaligen DDR, die 1956 – fünf Jahre vor dem Mauerbau – durch eine Schweigeminute für die Opfer des Ungarischen Volksaufstands in Konflikt mit dem Staat geriet. Nach mehreren Verhören, Schikanen und Schulverweise flüchtete die Klasse beinahe geschlossen über die damals noch offene Grenze nach West-Berlin.

„Wären wir geblieben, hätten wir kein Abitur machen und keinen normalen Beruf ergreifen können“, begründete Karsten Köhler, einer der damaligen Abiturienten (15 Jungen und ein Mädchen) und ehemalige Klassensprecher den gemeinsamen, nicht ungefährlichen Plan: „Niemand wurde dazu gezwungen, aber wir haben unser Leben anschließend so führen können, wie wir es wollten“ stellte er in der anschließenden intensiven Fragerunde mit den Jugendlichen klar. „Wir waren grenzenlos erleichtert. Es gab keine Alternative.“ Anfang der 1990er Jahre ging der Zeitzeuge zurück in den Osten. Seit 1993 lebt er in Brandenburg. Seine politischen Aktivitäten hat er bis heute nicht eingestellt und kümmert sich „um die Menschen, denen es in der DDR schlecht ergangen ist, ins Gefängnis gesteckt und teilweise wie Vieh behandelt wurden.“

Republikflucht mit der S-Bahn nach Berlin

Landrat Christian Engelhardt hieß Karsten Köhler, dem es nach 118 Zeitzeugen-Gesprächen in Deutschland und Ungarn „noch immer viel Spaß macht Rede und Antwort zu stehen und neue Fragen zu beantworten“, im Luxor-Kino in Bensheim willkommen. Nach Corona habe man sich bewusst dafür entschieden, die Erinnerung an die Teilung Deutschlands am Tag der Deutschen Einheit nicht wie üblich mit öffentlichen Reden und Musik wach zu halten, sondern dem nationalen Feiertag eine neue Form zu geben. „Wir wollen Erinnerung denjenigen vermitteln, die nach 1990 geboren wurden, die weder Mauerbau noch Mauerfall miterlebt haben. Deshalb haben wir Schüler dazu eingeladen, mit einem wichtigen Zeitzeugen, der zudem eine enge Verbindung zur Bergstraße hat, ins Gespräch zu kommen und zu erfahren, wie es damals war. Wir dürfen den Frieden nicht aufs Spiel setzen“, so der Landrat.

Nach der „Republikflucht“ der Abiturienten am 21. Dezember 1956 mit der S-Bahn nach Berlin, nach Verhören im Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde und der Anerkennung als politische Flüchtlinge, ging der Flug in die Freiheit über „das Gebiet der DDR“ nach Frankfurt und für einige Anfang Januar 1957 weiter in das Bischöfliche Konvikt nach Bensheim.

Alle fünf Jahre ein Klassentreffen in Bensheim

Zwei Wochen kampierte die eingeschworene Gemeinschaft in der Turnhalle, anschließend ging es auf die Orbishöhe nach Zwingenberg und zur Abi-Prüfung ans AKG. Karsten Köhler, damals 18 Jahre alt, war einer davon. Seit 1995 lädt er seine ehemaligen Mitschüler alle fünf Jahre zum Klassentreffen nach Bensheim ein.

Die Stasi war auch in Bensheim, verriet er zur großen Überraschung der Bergsträßer Schüler. „Wir hatten von früher her die Angewohnheit, uns umzudrehen, um zu gucken, wer hinter uns geht.“ Und tatsächlich habe man immer die gleiche Person bemerkt, die ihnen auffällig gefolgt sei: „Das konnte kein Zufall sein.“ Mit einem Schabernack wurde der Spitzel entlarvt – und ward in Bensheim nie mehr gesehen. Spitzel Nummer zwei hatte sich als vermeintlicher Mitschüler im Internat einquartiert und „war am Tag nach Entdeckung seiner wahren Identität verschwunden.“

Eine der Kernfragen, die dem Zeitzeugen nach der Filmvorführung immer wieder gestellt wurde, beschäftigte sich mit den Umständen der Flucht aus der DDR und der Klassengemeinschaft selbst. Woher kamen Zusammenhalt und Geschlossenheit, so wie sie heute kaum realistisch erscheinen? Wie kann es sein, dass 16 von 20 Schülern den schwerwiegenden Entschluss fassten, Familie und Freunde zu verlassen und das Risiko einzugehen, diese womöglich niemals wiederzusehen? „Wir waren eine sehr diskussionsfreudige, nicht bei allen Lehrern beliebte Klasse und haben uns gegen jede Phrasendrescherei gewehrt. Es war so. Wir haben als Klasse verdammt gut zusammengehalten und alles per Abstimmung besprochen und entschieden“, versuchte Köhler, Antworten zu geben.

Eltern der Abiturienten wurden stundenlang von der Stasi verhört

Trotz Verbots habe man auf einem kleinen Volksempfänger heimlich Westsender wie RIAS und Sender Freies Berlin gehört. „Wir waren also auf dem neusten Stand und wussten, dass die Russen in Ungarn einmarschiert waren.“ Die Schweigeminute sollte eine Art des stillen Protestes sein.

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Nachdem klar war, dass die Zukunft der ganzen Klasse auf dem Spiel stand, „haben wir uns alle auf dem Sportplatz verabredet um zu besprechen, wie wir abhauen können.“ Einige der Mütter seien in die Pläne ihrer Söhne und ihrer Tochter eingeweiht gewesen: „Es gab aber nichts Schriftliches um niemanden zu gefährden. Und es wurde keiner gezwungen, alle sind freiwillig mitgekommen.“ Es sei von vornherein klar gewesen, dass sie als Klasse zusammenbleiben wollen. Nach der gelungenen Flucht wurden die Eltern der Abiturienten stundenlang von „Stasi-Leuten verhört.“ Karsten Köhler gebrauchte den Ausdruck „menschliche Schweine“.

Emotional und noch immer stark betroffen reagierte Karsten Köhler als er das Wiedersehen mit den Eltern nach dem Fall der Mauer schilderte: „Nach 40 Jahren der Trennung hatten wir uns nichts mehr zu sagen. Wir waren uns fremd geworden. Damit hatte niemand gerechnet.“ Seiner eigenen Mutter und der Schwester gelang ebenfalls die Flucht. Beide lebten in Darmstadt.

Zeitzeuge mit klarem Bekenntnis gegen die AfD - "AfD ist absolut nicht wählbar"

Auf die Frage, „warum in den östlichen Bundesländern so viele Menschen die AfD gewählt haben“, reagierte der Zeitzeuge mit dem Versuch einer Erklärung ohne eine abschließende Antwort aber ein klares Bekenntnis zu geben: „Die AfD ist absolut nicht wählbar.“ Nach 60 Jahren DDR-Diktatur hätten demokratische Parteien im Gegensatz zum Westen „keinen derart festen Stand.“ Köhler schloss mit einem Zitat des Kabarettisten Dieter Nuhr: „Es ist dem Osten und dem Westen noch nie so gut gegangen wie heute, obwohl wir viel auszusetzen haben.“

Freie Autorin Seit vielen Jahren "im Geschäft", zunächst als Redakteurin beim "Darmstädter Echo", dann als freie Mitarbeiterin beim Bergsträßer Anzeiger und Südhessen Morgen. Spezialgebiet: Gerichtsreportagen; ansonsten alles was in einer Lokalredaktion anfällt: Vereine, kulturelle Veranstaltungen, Porträts. Mich interessieren Menschen und wie sie "ticken", woher sie kommen, was sie erreiche haben - oder auch nicht-, wohin sie wollen, ihre Vorlieben, Erfolge, Misserfolge, Wünschte etc.

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