Aktion - Der Schauspieler Walter Renneisen ließ das antike Gefährt von seinem Garten auf die Straße heben und will es für ein besonderes Sprachförderungsprojekt für Kinder zur Verfügung stellen

Auerbacher Zirkuswagen wird zum Märchenmobil

Von 
Thomas Tritsch
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Da schwebt er: Der alte Zirkuswagen von Walter Renneisen wurde aus dem Garten des Schauspielers auf die Straße gehoben. © Thomas Neu

Bergstraße. Wenn in einem Spielfilm ein 340 Tonnen schwerer Flussdampfer über einen Bergrücken im Dschungel gezogen wird, dann muss die Tricktechnik ausgefeilt sein. Oder man macht es tatsächlich. Mit geballter Kraft in Echtzeit. In Auerbach wurde jetzt ein alter Zirkuswagen über das Haus auf die Straße gehoben. Ebenfalls ganz ohne Spezialeffekte. Aber mit viel Know-how. Ein Schauspieler war trotzdem beteiligt.

1987 an die Bergstraße geholt

Seit 1987 stand das antike Schmuckstück in einem Garten an der Ludwigstraße – ein Sinnbild für das unstete Leben des fahrenden Volks und daher in einem künstlerischen Umfeld gerade richtig. Gebaut 1910 in Frankreich, hat Walter Renneisen die Antiquität vor 34 Jahren aus der Nähe von Stuttgart nach Bensheim geholt – für die Kinder. Die sind mittlerweile längst aus dem Haus, der Wagen aber war über die Jahrzehnte gleichsam mit dem Ort verwachsen, und nicht minder mit der Biografie der Bewohner. „Daran hängen natürlich unzählige Erinnerungen“, so Elisabeth Renneisen nicht ohne einen Hauch von Wehmut. Dem hölzernen Objekt selbst hat über die Jahrzehnte vor allem die Zeit zugesetzt.

2020 begann die Restaurierung

Als dann im Frühjahr 2020 ein Virus begann, gnadenlos über den Globus zu fegen, begann der Schauspieler mit der sorgfältigen Restaurierung des historischen Pferdefuhrwerks, das wohl in den 1930er Jahren für den Transport mit motorisierten Zugmaschinen umgerüstet worden war. Seither war Renneisen (BILD: Dietmar Funck) fast täglich an der Arbeit. Zeit hatte er ja. Denn für einen Kulturmenschen ist eine Pandemie so etwas wie ein infektiöses Berufsverbot. Der heimische Garten wurde zur Hauptbühne. Dort wurde eifrig gesägt, gehobelt, geschliffen und geschraubt. Renneisen war schon immer ein Selbermacher. Bühnenbilder und Requisiten werden meist eigenhändig angefertigt und repariert. Der Zirkuswagen war ein Herzensprojekt, sollte irgendwann verkauft oder verschenkt werden.

Innenausbau ist abgeschlossen

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Der Innenausbau ging stetig voran und ist mittlerweile abgeschlossen. Eine Tür an der vorderen Front wurde durch ein Fenster ersetzt, einzelne Holzlamellen hat Walter Renneisen erneuert oder ausgetauscht. Rund 30 000 Euro sind bisher in die Auffrischung geflossen. Für die äußere Hülle und den Unterbau geht der Besitzer von einem ähnlichen finanziellen Aufwand aus – eher mehr. Im Frühjahr wird eine Fachfirma die Restaurierung zu Ende bringen. Danach soll der Wagen als „Märchenmobil“ für Kinder unterwegs sein – ein Sprachförderprojekt für den Kreis Bergstraße mit Standort in Bensheim. Von der Idee ist der Schauspieler so begeistert, dass er den Zirkuswagen fliegen ließ.

Am Montag hat das Gefährt eine neue Reise angetreten. Schon am frühen Morgen war ein Teil der südlichen Ludwigstraße gesperrt. Ein 150-Tonnen-Kran mit langem Teleskopausleger parkte vor dem Haus, um den Wagen – rund 50 Meter von der Straße entfernt – zwischen den Wohnhäusern hindurch zu bugsieren. Denn weil das Anwesen zwischenzeitlich umgebaut wurde, konnte der betagte Anhänger nicht einfach vom Grundstück gezogen werden. Ein Anbau machte das unmöglich. Der Standort war von Mauern und Zäunen umzingelt. Sämtliche „Fluchtwege“ sind zugebaut.

Also wurden die Profis eines Gernsheimer Krandienstes bestellt. Für die Experten in Sachen Schwertransporte war der Auftrag eine eher leichte Übung – zumindest, was die Gewichte angeht. Vier Tonnen sind für sie kein Thema.

Richtig anspruchsvoll war die „Flugbahn“ des Zirkuswagens, der entweder über das 15 Meter hohe Wohnhaus gehoben oder über den tieferen Anbau nahe des Nachbargebäudes durch eine schmale Schneise hindurch schweben musste. Die Fachmänner entschieden sich für Letzteres. Nach einer kleinen Verzögerung durch ein defektes Bauteil am Kran – Ersatz kam direkt aus Karlsruhe – konnte es losgehen. Fast. Zuerst mussten die Gartentür ausgehängt und ein alter Rosenstock zurückgeschnitten werden, damit die Stützen des Autokrans genügend Platz hatten.

Der Stützdruck auf den Unterlegplatten war enorm. Immerhin musste der Ausleger etwa 60 Meter in die Höhe fahren, um an den Wagen auf dem hinteren Grundstück überhaupt heranzukommen. Um ihn sicher anheben zu können, wurde er mit Stahltraversen und Spezialmodulen stabilisiert. Damit hatte sich das Gewicht des Gesamtpakets in etwa verdoppelt. „Das sieht ja aus wie eine Abschussrampe für Raketen“, so Walter Renneisen über das schwere Gerät für ein Spektakel, das über mehrere Stunden auch von der Nachbarschaft mit Interesse verfolgt wurde. Und als der Zirkuswagen durch die Luft flog, mischte sich ungläubiges Kopfschütteln mit sanfter Melancholie und stiller Bewunderung für eine physikalisch-technische Meisterleistung. Nach dem soften Aufsetzen am Bürgersteig folgte kollektiver Applaus. Fast wie im Theater.

Ein Ort für die Erzählpädagogik

Schauspieler und Theaterwissenschaftler sollen in der weiteren Biografie des Wagens eine zentrale Rolle spielen. Die Idee dazu kam Renneisen nach Abschluss der Innenrestaurierung, als eine befreundete Theaterpädagogin vor einigen Kindern aus dem Bekanntenkreis eine kleine Vorstellung im Garten der Familie gegeben hatte. Die Jungen und Mädchen, darunter auch die Enkelkinder der Gastgeber, hingen dabei wie gebannt an den Lippen der Märchenerzählerin, die bei der Stadt Frankfurt in einem entsprechenden Sprachförderprojekt mitarbeitet und auch im Auerbacher Zirkuswagen maximale Aufmerksamkeit genoss: Im fokussierten Licht gab es nur den Menschen im Raum, eine Geschichte und ihr Publikum. Nur wache Blicke und offene Ohren.

Die Kunst des Erzählens sei noch kostbarer als das reine Vorlesen einer Geschichte, so Walter Renneisen, der auch als Hörspielsprecher arbeitet. Jetzt will er diese Form der Sprachförderung auch an der Bergstraße etablieren. Der runderneuerte Zirkuswagen soll irgendwann zu Grundschulen und Kindergärten rollen. Das Ziel: die Steigerung sprachlicher Fähigkeiten und sozialer Kompetenzen durch professionelle Erzählpädagogik in einem originellen Rahmen. Der Arbeitstitel lautet aktuell „Das rote Märchenmobil“.

Sponsoren gesucht

Für dieses Konzept braucht man eine farblich passende Zugmaschine, einen festen Standplatz – bevorzugt in Bensheim – und außerdem Sponsoren, die sich von dieser Idee mitreißen lassen, so der Schauspieler. Als Träger des Projekts könnte eine Stiftung, eine gemeinnützige GmbH oder ein Verein auftreten.

Eine schöne Vision und eine noble Zukunft für den alten Zirkuswagen. Renneisen weiß, dass die weitere Umsetzung kein leichtes Unterfangen werden dürfte. Den im Wortsinne wirklich schweren Teil der Geschichte aber hat er schon mal hinter sich.

Freier Autor

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