Bergstraße. Hierzulande sind rund zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen übergewichtig. Adipositas ist eine chronische Erkrankung, die behandelbar, aber nicht heilbar ist. Zum Welt-Adipositas-Tag am 4. März informierten die Adipositas-Experten des Kreiskrankenhauses Bergstraße (KKB) und des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD) im Heppenheimer Marstall über die Erkrankung. Chefarzt der Gastroenterologie am KKB, PD Dr. med. Uwe Seitz, erklärte, warum Diäten nicht funktionieren. Dr. med. Alba Sulaj, Oberärztin im Adipositaszentrum am UKHD, sprach über medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten und Prof. Dr. Phillip Knebel, Chefarzt der Allgemein- und Viszeralchirurgie am KKB, stellte chirurgische Optionen vor. Im Nachgang an den Vortrag gaben die Experten der BA-Redaktion ein Interview.
Welche Folgen hat Adipositas für die Patienten?
Prof. Dr. Philip Knebel: Stigmatisierung, Inaktivität, soziale Ausgrenzung.
Dr. Uwe Seitz: Demenz, Schlaganfall, Krebs – praktisch alles, was die Menschen überhaupt nicht wollen, tritt mit Adipositas häufiger auf.
Inwiefern macht sich Adipositas in unserer Gesellschaft bemerkbar?
Seitz: Das zeigt sich zum Beispiel im Krankenhaus. Wir haben jetzt glücklicherweise ein neues CT, das bis 307 Kilogramm zugelassen ist. Es ist noch gar nicht so lange her, da waren die CTs ab 150 Kilogramm Körpergewicht nicht mehr zu benutzen. Auch die Toiletten in den Kliniken waren den Menschen mit einem gewissen Gewicht nicht mehr gewachsen. Was glauben Sie, was das für ein Gefühl ist, wenn die Toilette aufgrund des Körpergewichts aus der Wand bricht. Die Auto- und auch die Flugsitze werden verbreitert. Es gibt sehr viele Kleinigkeiten, an denen man merkt, es tut sich was - im wahrsten Wortsinn - in der Breite der Gesellschaft. Wir haben auf der einen Seite den Schlankheitswahn, der immer extremer betrieben wird, sich aber die große Masse nicht mehr mitgenommen fühlt. Dementsprechend geben sie auf und nehmen langsam zu. Dann gibt es Politiker wie Herrn Söder, die TikTok-Videos veröffentlichen, in denen sie kalorienreiche Kost verzehren. Das ist absolut nicht angebracht. Ich würde mir wünschen, dass wir diese Dinge mehr gesellschaftlich hinterfragen würden.
Vita Dr. Uwe Seitz
- Chefarzt Innere Medizin I am Kreiskrankenhaus Bergstraße
- Facharzt für Innere Medizin, Gastroenterologie
- Privatdozent Dr. Seitz schloss 1991 sein Medizinstudium erfolgreich ab und arbeitete viele Jahre als Arzt und Oberarzt am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) in Hamburg. 1997 promovierte er, seit 2003 ist er Facharzt für Innere Medizin, seit 2006 mit der Schwerpunktbezeichnung Gastroenterologie. 2007 habilitierte Dr. Seitz und wurde 2008 Chefarzt der Abteilung Innere Medizin I am Kreiskrankenhaus Bergstraße.
Warum nehmen die Menschen immer mehr zu?
Knebel: Wir leben im Wohlstand, wir sind ein Industriestaat. Es gibt überall schnell verfügbare, billige, hochkalorische und hochverarbeitete Nahrung.
Seitz: Dazu kommt, dass die Menschen weniger laufen. Die Autos werden bequemer, die Parkplätze mehr und statt Treppen gibt es immer Aufzüge und Rolltreppen.
Ein Trend, den viele Menschen beim Abnehmen versuchen, ist das Intervallfasten, bei dem zu bestimmten Zeiten des Tages nichts gegessen wird. Was halten Sie davon?
Seitz: Ich sage erst mal nein zum Intervallfasten. Das ist nur etwas für Menschen, die nicht schwanger sind, nicht stillen, nicht zu alt sind, nicht zu jung sind, wenn keine Ernährungsstörung vorliegt, keine Erkrankungen wie Migräne vorliegen und ganz viele weitere Gegebenheiten nicht erfüllt sind – dann kann es für manche Menschen die einzige Möglichkeit sein, ihre Kalorienzufuhr unter Kontrolle zu bekommen. Intervallfasten ist einer von ganz vielen Wegen, um abzunehmen, aber nicht für die große Masse geeignet.
Eine Diät lehnen Sie grundsätzlich ab, da zum Beispiel der Jojo-Effekt hart zurückschlagen kann. Es geht um eine dauerhafte Änderung des Lebensstils. In diesem Zusammenhang sprachen Sie in Ihrem Vortrag von Fallen, in die man nicht reintappen darf. Welche sind das denn?
Seitz: Am häufigsten ist der Egal-Effekt. Wenn es also mit meinen Abnehm-Plänen nicht so geklappt hat, ich kurz schwach geworden bin, dann denke ich, ich kann es gleich ganz sein lassen. Und das ist falsch. Ich zitiere immer gerne den alten Ernährungspapst Volker Schusdziarra, der gesagt hat: „Jeder Mensch hat 15 Feiertage im Jahr, es gibt aber Menschen mit mehr als 350 Feiertagen.“ Wenn man an Tante Ernas Geburtstag ein Stück Sahnetorte ist, dann ist das völlig in Ordnung. Und damit kann man auch gegen den Egal-Effekt vorgehen. Dass man sich diese Ausnahmen, diese Feiertage, erlaubt – ohne gleich alles hinzuwerfen und wieder unkontrolliert zu essen. Hinzu kommen aber auch Faktoren, die schwer von den Patienten zu beeinflussen sind, wie die Tatsache, dass bestimmte Nahrungsmittel enormes Suchtpotenzial haben. Da kann es schon helfen, zu wissen, dass das so ist. Ich glaube auch, dass es nicht entscheidend ist, dass man jeden Faktor im Griff hat und jeder schlank ist. Grundsätzlich sollte meiner Meinung nach angestrebt werden, dass man wieder Kontrolle über sein Leben bekommt.
Vita Dr. Alba Sulaj
- Seit 2022 ist Dr. Alba Sulaj als Oberärztin im Adipositaszentrum des Universitätsklinikums Heidelberg tätig. Zudem leitet sie die Arbeitsgruppe Lebensstilintervention, den Bereich Ernährungsmedizin sowie die Sektion Osteologie an der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie, Stoffwechselkrankheiten und Klinische Chemie am Universitätsklinikums Heidelberg.
- Nach ihrer Promotion am Universitätsklinikum Heidelberg begann Dr. Sulaj ihre berufliche Laufbahn als klinische Forscherin sowie als Assistenzärztin und Fachärztin für Innere Medizin und Ernährungsmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg.
Was hilft denn, um abzunehmen?
Seitz: Es geht ganz vieles über Motivation. Nehmen wir das Thema Bewegung: Wenn ich es schaffe, über Freunde, ein Team oder auch ein Haustier an meinem Verhalten etwas zu ändern, dann geht das, weil es Spaß macht. Immer wenn man Sie mit dem inneren Schweinehund kämpfen müssen, haben Sie meistens schon verloren. Aber wenn ich Freude habe, an dem was ich mache, weil ich mich zum Beispiel dann auch mit meiner Freundin treffe, dann funktioniert das. Elf Minuten Bewegung am Tag bringen mir statistisch bereits eine 10 Prozent längere Lebenszeit zurück, die ich durch meinen Lebenswandel sonst verlieren würde. Bei 22 Minuten am Tag sind es bereits 16 Prozent. Man muss sich auch davon verabschieden zu sagen, dass eine Strategie für alle passt. Jeder hat seine individuellen Ziele. Eine Abnahme von 150 auf 130 Kilogramm ist schon ein großer Erfolg. Auch wenn der Patient trotzdem noch stark übergewichtig ist, hat er viel für seine Gesundheit getan.
Was sollte denn bei der Ernährungsumstellung beachtet werden?
Seitz: Auch keinen Fall sollten Sie hungrig vom Esstisch aufstehen. Und dann sollte man wissen, dass hochverarbeitete Lebensmittel so designt sind, dass man mehr Kalorien braucht, um den gleichen Sättigungsgrad zu erreichen. Wenn man aber selbst kocht und weiß, was drin ist, dann ist das in aller Regel besser. Eine traditionelle, frische Ernährung, so wie man die letzten Jahrhunderte gegessen hat, hat durchaus seine Berechtigung.
Dr. Alba Sulaj : Kochen Sie frische Nahrungsmittel so, wie ihre Großmutter gekocht hat. Zu empfehlen ist auch eine mediterrane Kost und hochverarbeitete Lebensmittel sollen vermieden werden.
Knebel: Die zehn Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung sind sicher ebenfalls hilfreich zur Orientierung.
Welche Möglichkeiten gibt es denn mit Medikamenten die Abnahme zu unterstützen?
Sulaj: Wir haben drei gängige Präparate für die Adipositastherapie, die aktuell auf dem Markt sind. Zwei von den Substanzen haben sowohl eine Zulassung für Adipositas als auch für Diabetes. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten nur, wenn auch ein Diabetes vorliegt. Die durch die Medien bekannte „Abnehmspritze Ozempic“ hat nur eine Zulassung für Diabetes und wird leider oft über den Schwarzmarkt gekauft. Und wichtig zu wissen ist, dass wir für die Patienten mit Diabetes, die Ozempic wirklich gebraucht haben, lange Zeit keines mehr zur Verfügung hatten. Adipositas ist eine chronische Erkrankung und deren medikamentöse Therapie soll fachärztlich eingeleitet und begleitet werden.
Knebel: Man muss an dieser Stelle ganz deutlich betonen, dass wenn jemand mit dem Gedanken spielt, entweder chirurgisch oder medikamentös etwas zu unternehmen, der muss zu einem Facharzt gehen. TikoTok ist da keine gute Anlaufstelle. Zudem muss man ergänzen, dass in den kommenden Jahren viele neue Medikamente auf den Markt kommen werden, die sich ganz gezielt an die Menschen wenden, die nicht adipös sind, aber aus Schönheitswahn an Gewicht verlieren wollen.
Seitz: Und da stellen sich dann auch Fragen nach den Nebenwirkungen dieser Medikamente, die wir heute noch gar nicht kennen.
Wenn ein Medikament wirkt - der Patient nimmt ab -, kommt aber auch der Moment, an dem das Präparat abgesetzt wird. Wie beugt man hier dem Effekt vor, dass man gleich wieder zunimmt?
Sulaj: Der Alltag muss entsprechend angepasst werden. Ohne eine Änderung des Lebensstils hilft die Behandlung langfristig nicht. Es braucht auch die Erkenntnis, dass man chronisch krank ist und professionelle Hilfe benötigt wird.
Seitz: Der Kopf wird nicht mittherapiert. Der muss unabhängig davon den Weg mitgehen. Medikamente und eine OP sind erste Schritte, eine Motivation. Deshalb braucht es auch eine fachmännische Begleitung und ist auch die Fachambulanz in Heidelberg so wichtig.
Vita Prof. Dr. Philip Knebel
- Prof. Dr. Phillip Knebel ist seit 2022 Chefarzt Allgemein- und Viszeralchirurgie am Kreiskrankenhaus Bergstraße.
- Nach dem Abschluss seiner medizinischen Ausbildung und Promotion startete Professor Knebel seine medizinische Karriere an der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg. Hier schloss er seine beiden Facharztausbildungen erfolgreich ab und erlangte die Zusatzweiterbildung spezielle Viszeralchirurgie. Professor Knebel leitete im Verlauf unter anderem das Klinische Studienzentrum Chirurgie (KSC) der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg.
- Er habilitierte im Jahr 2016 zum Thema der evidenzbasierten Chirurgie und war Oberarzt an der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie der Universitätsklinik Heidelberg.
Werfen wir einen Blick auf die Chirurgie – welches sind die gängigsten Verfahren?
Knebel: Es gibt die Magen-Bypass-OP und die Magenschlauch-OP. Rund zwei Drittel der Operationen sind Magenschlauch-OPs, der Rest Magen-Bypass-OPs. Grund ist, dass der Magenschlauch einfacher und weniger komplex in der Operationsmethode und die Anatomie bleibt dieselbe. Der Bypass ist komplizierter, hat aber Vorteile bei Patienten mit starkem Reflux. Man entscheidet da individuell, was besser für den Patienten geeignet ist.
Ist die Operation tatsächlich langfristig die beste Lösung?
Knebel: Sie werden tatsächlich im ersten Monat deutlich an Gewicht verlieren, da der Mechanismus schon auf einer physikalischen Reduktion des Magens beruht, weniger Nährstoffe werden vom Körper aufgenommen und sie können auch einfach weniger essen. Wenn man diesen Erfolg aber halten will und es mit der darüber hinaus Gewichtsabnahme weitergehen soll, dann muss sich auch hier der Lebenswandel mit verändern. Der Kopf muss immer umschalten – so schwierig das auch ist. Der Start mit einer Operation macht es leichter, da er häufig mit einem Motivationsschub für den Kopf einhergeht. Und: Und circa 70 Prozent der operierten Patienten mit einem zusätzlich bestehenden Diabetes Typ 2 brauchen danach kein Insulin mehr.
Was raten Sie denn den Menschen mit Adipositas, die jetzt mit dem Abnehmen starten wollen?
Knebel: Ich kann zum Start eine Selbsthilfegruppe empfehlen. Da erhält man Informationen von Menschen, die selbst diesen Weg gehen und tauscht Erfahrungen aus. Das kann auch Ängste nehmen – gerade vor einer Operation tut es vielleicht gut zu hören, dass sie wirklich sehr sicher ist, oft durchgeführt wird und sie am Ende auch sehr oft erfolgreich ist.
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