Zwingenberg. Paula Thiede war eine starke, unerschrockene Kämpferin, die sich Ende des 19. Jahrhunderts als junge Frau trotz persönlicher Schicksalsschläge und entgegen aller Widerstände mit ganzer Kraft für die Gleichstellung der Geschlechter eingesetzt und dabei immer die wirtschaftliche Not der Arbeiterinnen und Arbeiter im Blick gehabt hat. Thiede, 1870 als Pauline Philippine August Berlin in Berlin geboren, wuchs rund um den heutigen Kreuzberger Mehringplatz im so genannten Zeitungsviertel auf und verstarb im Alter von nur 49 Jahren nach schwerer Krankheit. Nach dem frühen Tod ihres ersten Ehemanns wurde sie – gerade zum zweiten Mal schwanger – mit 21 Jahre Witwe. 1895 ehelichte sie Wilhelm Thiede.
Paula Thiede war die erste weibliche und hauptamtliche Gewerkschaftsführerin in Deutschland und mutmaßlich die weltweit erste Frau an der Spitze einer gemischtgeschlechtlichen Gewerkschaft. Ihre Verdienste sind bis heute unbestritten – und doch hat sie nie den Bekanntheitsgrad anderer Frauenrechtlerinnen wie beispielsweise Helene Lang oder Clara Zetkin erreicht.
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Zu unrecht, meint die SPD-Fraktionsvorsitzende Regina Nethe-Jaenchen, die sich intensiv mit dem Leben und Wirken der fast vergessenen Arbeiterführerin, den damaligen Verhältnissen und dem sozialen Umfeld beschäftigt hat. Anlässlich des Weltfrauentags berichtete sie im Saal des Alten Amtsgerichts – unter anderem anhand von Zitaten aus einer Biografie des Historikers Uwe Fuhrmann mit dem Titel „Frau Berlin“ – über eine Gewerkschafterin, die mit nur 14 Jahren als Bogenanlegerin Hilfsarbeiten in einer Buchdruckerei verrichtete und dort ständig Giftstoffen und Metallen ausgesetzt war. Und die letztendlich – mit kurzer Unterbrechung bis kurz vor ihrem Tod – über 21 Jahre lang an der Spitze des „Verbandes der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und -Arbeiterinnen Deutschlands“ stand.
Den Respekt der Männer erworben
Sie habe sich aufgrund ihres Durchsetzungsvermögens und taktischen Geschicks, ihres Organisationstalents, ihrer Solidarität für Hilfsarbeiterinnen und ihrer Erfolge bei der Abschaffung der skandalösen Zustände bei der Arbeitsvermittlung, der Verkürzung der Arbeitszeit und dem Abschluss von zentralen Tarifverträgen nach und nach auch den Respekt der Männer erworben, so Nethe-Jaenchen.
Die Frauenrechtlerin war 1890 an der Gründung des ersten Zentralverbandes der Gewerkschaftsgeschichte, dem „Verein der Arbeiterinnen an Buch- und Steindruck-Schnellpressen“, der ersten gewerkschaftlichen Frauenorganisation überhaupt beteiligt.
Zu dieser Zeit wohnte sie als alleinerziehende Mutter zweier kleiner Kinder – ohne eigenes Einkommen – mietfrei in einem halbfeuchten Neubau in einem Berliner Vorstadtviertel. Die SPD-Fraktionsvorsitzende erklärte den Zuhörern, was mit dem so genannten „Trockenwohnen“ auf sich hatte. Um die Wohnungen für die Mieter schneller bewohnbar zu machen, wurden sie zunächst armen Familien überlassen, von denen sich viele ihre Gesundheit ruinierten. Vermutlich kam auch Thiedes Sohn so mit dreieinhalb Jahren zu Tode.
Wieder zurück in ihre alte Umgebung in Kreuzberg arbeitete die erst 21-Jährige erneut an der Schnellpresse, schloss sich der Gewerkschaftsbewegung an, wurde ein Jahr später in den Vorstand und 1894 zur Vorsitzenden des „Verbandes der Buch- und Steindruckerei- Hilfsarbeiter und -Arbeiterinnen Deutschlands“ gewählt. Mit einem herben Rückschlag endete der erste große Streik von 12 000 Buchdruckern und HilfsarbeiterInnen im Jahr 1891. Aufgrund der Beschlagnahmung der gewerkschaftseigenen Kassen durch die Behörden gab es keine finanzielle Unterstützung – stattdessen zahlreiche Austritte von Mitgliedern. Ein zweiter Streik nur ein paar Jahre später hingegen wurde ein Erfolg.
Paula Thiede, die nicht nur eine engagierte Gewerkschafterin war, erfolgreich an der Vernetzung der Hilfsarbeiterinnen im Druckgewerbe weit über Berlin hinaus arbeitete „und bis zu ihrem Lebensende ihren Standpunkt deutlich vertreten hat“, war zudem in mehreren Kommissionen und Agitationskreisen vertreten, hielt Vorträge, ging auf Lesereisen und besuchte Internationale Kongresse in Kopenhagen und Stuttgart. Seit 1895 war die Berlinerin Funktionärin Redakteurin der Gewerkschaftszeitung „Solidarität“. Zur SPD allerdings, so Regina Nethe-Jaenchen, habe die „Brückenbauerin“ ihres Wissens nach keinen Kontakt gehabt.
Erinnerung verdient
Obwohl sie 1917 schwer erkrankte, „hat sie sich am 19. Januar 1919 zur Wahl der Deutschen Nationalversammlung geschleppt, bei der erstmals in der deutschen Geschichte den Frauen in aktives und passives Wahlrecht eingeräumt wurde“, schloss die Zwingenberger SPD-Vorsitzende ihren Vortrag über Paula Thiede. Eine letzte Anmerkung noch: „Sie hat es verdient, dass man sich ihrer erinnert.“
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