Zwingenberg. An einem der wohl idyllischsten Plätze der Bergstraße ließ sich der Lorscher Leseschwarm nieder – aber der Rastplatz lag diesmal nicht in Lorsch, sondern in Zwingenberg, wo die Straße am Obertor eigens für die Veranstaltung gesperrt wurde. Die Gastgeberstadt hatte unter der alten Linde eine Menge Stühle aufgestellt, auf denen nicht nur die ausgeschwärmten Lorscher, sondern auch etliche Zwingenberger und andere Gäste gern Platz nahmen. Dort erwarteten sie knapp zwei vergnügliche Stunden und die Erkenntnis, dass Lyrik weder anstrengend noch langweilig sein muss:
Mit „Im Tingeltangel tut sich was“ erwiesen die Vortragenden dem Maler, Texter und Schriftsteller Fritz Graßhoff ihre Reverenz, der von 1967 bis Anfang der 1980er-Jahre in Zwingenberg lebte. Damals zählte Katharina Ziemann zu seinem Freundeskreis – nun stellte sie als „Gastschwärmerin“ den besonderen, authentischen Bezug zu dem Künstler her. Sie las im Wechsel mit dem Team der Lorscher „Arbeitsbienen“ Nicole Margraf, Karlheinz Mulzer, Sybille Römer, Heidrun Scheyhing, Renate Stippler und Margit Vogel Gedichte aus verschiedenen Werken Fritz Graßhoffs.
Leseschwarm im Überblick
Bensheim, 8. Juni, Mittwoch, 19 Uhr, Am Wambolter Hof / Hostinné-Platz, „Herz, mein Herz, was soll das geben? Gedichte für Paare“, Gastschwärmer: Jeanette Giese und Berthold Mäurer (bei Regen: Foyer des Parktheaters, Promenadenstraße 25).
Hemsbach, 13. Juli, Mittwoch, 19 Uhr, Alte Synagoge (Mittelgasse 16), „Nur eine Rose als Stütze – Gedichte jüdischer Lyrikerinnen und Lyriker“, Gastschwärmerin: Ulrike Lohrbächer (bei Regen: Innenraum der Synagoge).
Weinheim, 10. August, Mittwoch, 19 Uhr, Kreuzung Gerbergasse/Lohgasse, „Die Sonne ist ein Lutschbonbon – Reimereien für Kinder“, Gastschwärmerin: Ingrid Noll (bei Regen: Karlsberg-Carré 10). red
Der „Leseschwarm“ bezieht sich auf den berühmten Bienensegen, den ein Lorscher Mönch im 10. Jahrhundert aufschrieb. Es ist ein Bannspruch, der das Bienenvolk beschwört, zum Heimatstock zurückzufliegen. Solcherart „angewandte Kunst“ begeistere sie, sagen die Mitglieder des Schwarms, der Teil des Bienen- und Dichterprojekts des Kulturamts Lorsch ist. Und begeistern selbst immer wieder ihr Publikum mit gekonnt und abwechslungsreich vorgetragenen Gedichten.
Als „Leseschwarm 2.0“ ist das Lorscher Lesebienenvolk samt Zuhörerschaft nun auf Tour entlang der Bergstraße: Ein eigens gestalteter Bus fährt von Lorsch aus an vier Mittwochabenden in vier verschiedene Städte – kostenlos, wie die gesamte Veranstaltung. Den gelungenen Auftakt machte nun Zwingenberg, es folgen Bensheim (8. Juni), Hemsbach (13. Juli) und Weinheim (10. August).
In Zwingenberg wurden in der Pause zur Stärkung, Wein und Wasser und Schmalzbrote angeboten. Passend zum Programm, hieß es, in dem es auch sehr deftig zugehe, „mit viel Speck und Fett“. Und einigem mehr. Wer Lyrik mitunter als blutleer empfindet, wurde mit den Graßhoff-Texten eines anderen belehrt – im übertragenen Sinn, aber auch durchaus wörtlich: Da spritzt das Blut vom Schafott und die Frauen seufzen beim Anblick des Henkers „Wie süß er ist“. Der einbeinige Wumpe rammt einem Nebenbuhler seine Prothese ins Gemächt. Eine Frau will ihren Mann vergiften, er sinnt im Gegenzug auf Erschlagen mit dem Beil. Es geht viel um Liebe, um käufliche („Man wirft sich nur einmal im Leben weg, und steckt man erst mal im Dreck, dann zählt man die Männer nicht mehr“) aber auch um enttäuschte „Heut hat mein Geliebter Hochzeit im Strandhotel“, denn „sie“ hat Geld an den Füßen und die Zurückgelassene ist arm.
Dass man auch um eher plakative Themen große Wortkunst weben kann, zeigen alle diese Gedichte. Besonders schön zum Beispiel die vielfältigen Variationen um den Begriff der Flatulenz. „Die Winde des Herrn Prunzelschütz“ bringen den Gegner beim Turnier mit einem Furz zum Sturz, die Feinde einer ganzen Stadt schlägt der Ritter sogar derart in die Flucht – und lässt beim Tod ganz sacht einen fahren.
Der Tod spielt eine große Rolle in den Gedichten und Balladen von Graßhoff. Auch im zweiten Teil des Abends, in dem es vor allem um Piraten und Seemänner geht. Viele von ihnen kämpften mit ihren Mitteln für Gerechtigkeit und endeten am Strang. Nicht so die Freibeuterin Mary Read, die mit einem Kind im Bauch gefangen genommen wird und dank Kindbettfieber den Tod „mit heilem Hals und ohne Pfaffen“ fand.
„Die Menschlichkeitsballade vom Major Bonnet“ handelt von dessen Kampf gegen den Sklavenhandel, während „Das Hosenlied vom Calico-Jack“ ganz profan eine Hose feiert, die so dreckig war, dass sie allein auf Deck stehen blieb, wenn sich ihr Besitzer mit einer Dame in seiner Kajüte vergnügte. Das Melodische und Liedhafte all dieser Gedichte brachten die „Arbeitsbienen“ und die Gastschwärmerin des Leseschwarms unangestrengt und überzeugend zur Geltung, zur Zufriedenheit der Zuhörer, die entsprechend mit einer Zugabe belohnt wurden.
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