Zwingenberg. Der Holocaust in Tagebuch-Form. Direkt und authentisch, emotional und bewegend. Auf der Flucht vor den Nazis war es vielen jüdischen Kindern und Jugendlichen aus ganz Europa ein tiefes Bedürfnis, ihre Erlebnisse und Gefühle schriftlich festzuhalten. In Ghettos, in Verstecken oder Lagern notierten sie ihre Gedanken in der freisten und subjektiven literarischen Textform als autobiografisches Vermächtnis an die Nachwelt.
Für die Autoren waren die Tagebücher und Briefe eine emotionale Stütze im Angesicht des Todes
In der Anthologie „Der papierene Freund“ wurden Auszüge aus Berichten, die in neun Sprachen verfasst wurden, jetzt erstmals auf Deutsch veröffentlicht. Sie beeindrucken durch die Unmittelbarkeit der Beschreibungen, durch private Einsichten und persönliche Reflexionen der jungen Autoren. Und sie spiegeln ihre Hoffnungen und Ängste ebenso wie ihre Verzweiflung, ihren Mut und ihre Tatkraft.
Am Vorabend des internationalen Tags des Gedenkens an die Opfer des Holocaust haben am Freitag Jugendliche aus Bensheim und Zwingenberg aus den Tagebüchern gelesen. Vor zahlreichen Gästen im Katholischen Gemeindezentrum Mariae Himmelfahrt gaben Fiona und Kirsi Ränker sowie Tobias Lang Einblicke ins Innere der Autorinnen und Autoren. Ausgewählt wurden die Passagen von Ulrike Jaspers, der zweiten Vorsitzenden des Arbeitskreises Zwingenberger Synagoge. Musikalisch umrahmt wurde der Abend von den Geschwistern Antonia und Konstantin Gosch aus Bensheim an Bratsche und Violine.
Ausgerichtet wurde die Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der katholischen und evangelischen Kirche in Zwingenberg. Pfarrer Christian Stamm begrüßte die Gäste und betonte die Bedeutung einer lebendigen Erinnerungskultur für die Gegenwart und Zukunft – in einer Zeit, in der rechte und antisemitische Tendenzen wieder in der Gesellschaft angekommen sind.
2022 hat der Berliner Metropol Verlag einen Band mit 30 Tagebuch-Aufzeichnungen jüdischer Jugendlicher zwischen elf und 24 Jahren aus 13 europäischen Ländern veröffentlicht. Elf dieser jungen Menschen haben die Shoah nicht überlebt, wie Herausgeber Wolf Kaiser schreibt. Er bezeichnet die Tagebücher auch als Denkmale für die verfolgten Menschen und Zeugnisse ihrer Zeit.
Für die Autoren waren die Tagebücher und Briefe eine emotionale Stütze im Angesicht des Todes, in denen sie ihr Innerstes nach außen tragen konnten und sich dadurch zusätzlich in große Gefahr begaben. Ihre Berichte sind auch ein Ausdruck von Selbstbehauptung und ein wertvoller Beitrag zur wissenschaftlichen Holocaust-Literatur, in der die Stimmen junger Menschen allzu häufig übergangen werden – oder selten überliefert sind.
Die Originaltexte wurden durch Fußnoten und Ergänzungen angereichert
Das Buch füllt eine Lücke und verschafft ihnen Gehör. Kaiser weist in seiner Sammlung darauf hin, dass der Vielzahl von Video-Interviews mit Überlebenden der deutschen Judenverfolgung nur eine geringe Zahl von Tagebüchern gegenüberstehen. Der Herausgeber ist ehemaliger Leiter der Bildungsabteilung im Haus der Wannsee-Konferenz und hat die Originaltexte durch Fußnoten und Ergänzungen angereichert, so dass der Leser sie in den zeithistorischen und geografischen Kontext einordnen kann.
Auch wenn die Texte hinsichtlich ihres sprachlichen, literarischen und historischen Gewichts recht unterschiedlich sind, so bereichern sie alle als direkte und authentische Belege das Wissen über einen einzigartigen Zivilisationsbruch. Ein Zitat der 18-jährigen polnischen Jüdin Miriam Chaszczewicka hatte Ulrike Jaspers zu der Lesung motiviert: „Ist es nicht dumm, dass ich mir einen Schritt vor dem Tod Sorgen mache, was mit meinem Tagebuch passieren wird: Ich wünschte, es würde nicht kläglich in einem Ofen oder auf einer Müllhalde landen. Ich möchte, dass jemand es findet, sogar ein Deutscher, und es liest.“
Die damals 15-jährige Sheyna Gram aus der lettischen Kleinstadt Preili beschreibt, wie Anfang Juli 1941 deutsche Truppen einmarschiert sind, wie jüdische Geschäfte geplündert und Synagogen geschändet wurden. Am 27. Juli wird einem Teil der Bevölkerung befohlen, ihre Häuser zu verlassen. „Um 12 Uhr werden alle in die Synagoge getrieben. Eine Gruppe junger Juden wird weggeschickt, um hinter dem Friedhof Gruben auszuheben“, schreibt sie. Um halb vier wurden hinter dem Friedhof 250 Juden erschossen. Männer, Frauen und Kinder. Zwei Tage später berichtet sie: „Mir erscheinen die Gesichter all der Erschossenen. Es kommt mir vor, als höre ich Weinen.“ Ihr letzter Eintrag stammt vom 8. August 1941 – ein Tag vor ihrer Ermordung.
Während Ellis versteckt überlebte, wurde ihr Freund in Amsterdam aufgespürt
Der Niederländer Barend Spier schreibt in seinem letzten Eintrag, dem er die Überschrift „Brief an meinen Liebling“ gab: „Ich kann und darf ein solches Tagebuch nicht bei mir führen. Es ist nicht nur für mich gefährlich, sondern auch für viele andere.“ Er starb im Januar 1944 als 19-Jähriger in Auschwitz-Monowitz, wo er Zwangsarbeit verrichten musste. Tagebucheinträge verbanden ihn mit seiner Freundin Ellis Paraira. Beide waren 1942 mit Familienangehörigen untergetaucht.
An eine normale Korrespondenz war nicht zu denken, so waren ihre füreinander verfassten Tagebücher ein Ersatz für den persönlichen Austausch. Ellis Paraira überschrieb ihre Tagebucheinträge mit dem Titel „Erinnerungen an die Zeit, als Du nicht bei mir warst“. In ihren wechselnden Verstecken von Denunziation und Entdeckung bedroht, vertraute sie ihrem Tagebuch an: „Wir bleiben ganz gelassen und warten auf das Ende … Gott, wie schlimm es ist, zu sterben oder in einem Konzentrationslager zu landen, wenn das einzige Verbrechen, das man in seinem Leben begangen hat, darin bestand, als Jude geboren zu sein!“
Während Ellis versteckt überlebte, wurde ihr Freund in Amsterdam aufgespürt, mit seiner Familie über Westerbork nach Auschwitz deportiert. Als sie im Dezember 1945 heiratete, erhielt sie das zweite Tagebuch ihres ermordeten Freundes. Erst 60 Jahre später erschien es zunächst 2011 in den Niederlanden, und kurz darauf auch in Israel, wo sie 2021 starb.
Passende Musik zu bewegenden Zeugnissen aus der Vergangenheit
In ihrer jiddischen Muttersprache vertraute auch die damals 15-jährige Lena Jedwab ihre Gefühle und Gedanken von 1941 bis 1944 ihrem Tagebuch an: „Mein Tagebuch ist mein intimster Freund! … Mein papierener Freund, du bist Teil meines Seins. Ich hoffe, dass Du mich nicht verrätst, weil Du auf Jiddisch bist und wenige hier das lesen können. Und vor denen, die es lesen können, kann ich es gut verbergen!“ Die Schriftstellerin starb als Lena Jewab-Rozenberg 2005 in Paris.
Die Musik der Geschwister Gosch passte hervorragend zu diesen bewegenden Zeugnissen aus der Vergangenheit. Neben Werken von Bach und Krieger erklang am Ende auch Dietrich Bonhoeffers „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Es stammt aus seinem Brief an Maria von Wedemeyer aus dem Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamts in Berlin vom Dezember 1944. Der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer wurde im April 1945 im KZ Flossenbürg ermordet.
Pfarrer Christian Hilsberg von der Evangelischen Kirchengemeinde Zwingenberg beschloss den Abend mit einem Segen. Vorsitzender Fritz Kilthau vom Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge dankte allen Beteiligten für das Zustandekommen dieser Lesung.
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/zwingenberg_artikel,-zwingenberg-holocaust-tagebuecher-zwingenberg-_arid,2170253.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/bensheim.html
[2] https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/zwingenberg.html