Zwingenberg. Die Recherche zur Zwingenberger Sagenwelt führt zu dem Werk „Sagen aus dem Kreis Bergstraße“ (zusammengestellt und bearbeitet von Richard Matthes) aus dem Jahr 1952. In diesem Buch sind Erzählungen von der Bergstraße, aus dem Ried, dem südlichen und nördlichen Odenwald sowie dem Neckartal zusammengetragen.
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Passend zur kleinsten Gemarkung im Kreis Bergstraße wird Zwingenberg in einer der kürzesten Sagen des Buches erwähnt. Drei Sätze umfasst diese Kurzgeschichte: Ein auf dem Malschen- oder Spitzberg (heute Melibokus) hausender Riese wollte aus Übermut einen Stein vom Gipfel des Berges über den Rhein werfen. Der Stein glitt dem Riesen jedoch aus der Hand „und fiel dort hin, wo er heute noch liegt“: in der Nähe von Zwingenberg.
Der Hinkelstein
Damit könnte der Hinkelstein gemeint sein, sagt Berenike Neumeister (kleines Bild). Die Zwingenbergerin ist Historikerin, seit vielen Jahren auf vielfältige Weise im Geschichtsverein und im Heimatmuseum engagiert. Und sie ist Mit-Autorin der aktuellen Fortschreibung der Stadtchronik anlässlich des diesjährigen Jubiläums „750 Jahre Stadtrechte“, die die vergangenen 50 Jahre erschließt.
Was Zwingenberger Wein mit der Stadtmauer zu tun hat
Obwohl ohne eigene Stadtsage ist die Zwingenberger Historie dennoch reich an interessanten Anekdoten. Berenike Neumeister schildert eine Erzählung, die sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zugetragen und die Zerstörung der Stadt durch die Franzosen im Jahr 1693 begünstigt haben soll. „Das ist weder faktisch belegt, noch hat die Geschichte die klassischen mythischen oder magischen Elemente einer Sage“, schränkt die mit der lokalen Vergangenheit bestens vertraute Historikerin ein. Einige Jahre vor der Plünderung der Stadt durch die Franzosen 1693 soll der hessische Landgraf seinen Beamten den Auftrag gegeben haben, die Maße der Stadtmauern in seinem Herrschaftsbereich zu überprüfen. Die Zwingenberger Stadtmauer soll zu diesem Zeitpunkt nicht durchgängig die erforderliche Höhe besessen haben. Eine Erhöhung des Schutzwalls an einigen Stellen wäre allerdings mit hohen Kosten verbunden gewesen. „Steine waren schon damals teuer“, erklärt Berenike Neumeister.
Also lud die Bürgerschaft den landgräflichen Beamten vor der Durchführung der Messungen zu dem ein oder anderen Gläschen Zwingenberger Wein ein. Die Vermessung der Stadtmauer verlief anschließend, wenig überraschend, ohne Beanstandungen – das Stadtsäckel musste somit nicht belastet werden.
Im Jahr 1693 standen dann die Franzosen vor der Stadt. Es heißt, Bauern aus der Umgebung hätten den Angreifern die Schwachpunkte in der Stadtmauer gezeigt: Über jene Stellen, die der vom Zwingenberger Wein benebelte Beamte rund zwei Jahrzehnte zuvor als sicher eingestuft hatte, kam der Feind in die Stadt eh
Berenike Neumeister ist also eine Expertin für die Zwingenberger Geschichte. Eine klassische Stadtsage ist ihr bei ihrer Beschäftigung mit der lokalen Historie bislang nicht begegnet. Dass in einem der ehemaligen Zwingenberger Adelshöfe die „Weiße Frau“ umherging – ein Gespenst, das seit dem 15. Jahrhundert europaweit in Erscheinung trat – hält sie für möglich. „Das wäre aber nichts Spezifisches für Zwingenberg.“
Felsbrocken vom Luciberg
Zurück zum Hinkelstein „in der Nähe von Zwingenberg“. Was hat es mit dem Felsbrocken vom Berge Melibokus auf sich, dessen Gipfel bekanntlich auf Alsbach-Hähnleiner und Bensheimer Gemarkung liegt? Der Hinkelstein, ein Monolith aus der Neusteinzeit (Neolithikum), befindet sich auf Alsbacher Hoheitsgebiet, eingeklemmt zwischen der Straßenbahnlinie nach Darmstadt in der Nähe der Haltestelle „Am Hinkelstein“ und dem gleichnamigen Sportgelände.
Auf der Webseite des Landkreises Darmstadt-Dieburg wird dazu ausgeführt: „Der Hinkelstein in Alsbach gilt als eines der ältesten Naturdenkmäler in Darmstadt-Dieburg. Der Menhir (Steinblock) stammt aus einem Steinbruch am Luciberg unterhalb des Melibokus bei Zwingenberg. Um etwa 2000 Jahre v. Chr. wurde der Hinkelstein an einen circa zwei Kilometer entfernten Aufstellungsort am Westrand von Alsbach verbracht.“ Hinweise vom Weitwurfversuch des Melibokus-Riesen liefert diese Quelle nicht.
Kerkermeister vergaß Schlüssel
Ebenfalls eher eine Nebenrolle spielt Zwingenberg bei der sogenannten „Toter Mann“-Sage. Auf dem Höhenweg zwischen dem Auerbacher Fürstenlager und dem Lautertaler Felsberg, direkt an der alten Grenze zwischen der Grafschaft Erbach-Schönberg und der Landgrafschaft Hessen, soll einst eine Frau ihren Mann erschlagen haben.
Der Leichnam soll halb in Erbach und halb in Hessen gelegen haben. Wegen der Positionierung des Toten gerieten Erbacher und Hessen über den zuständigen Gerichtsort in Streit.
Jahrelang wurde die Frau deshalb wechselweise in die Kerker von Schönberg und Zwingenberg eingesperrt. Bis schließlich der Zwingenberger Kerkermeister, wohl auf Anweisung von oben, eines Nachts den Kerkerschlüssel stecken ließ und die Frau verschwand. Einen Kerker gab es in Zwingenberg tatsächlich, wie Berenike Neumeister bestätigt. Zur ehemaligen Wasserburg, deren Überreste im Stadtpark zu sehen sind, gehörte ein Verlies. Übrigens soll am Wegpunkt/Tatort „Toter Mann“ zur Geisterstunde heute noch das Jammern und Klagen jener Frau zu hören sein.
Hohe Sagendichte im Odenwald
Beim weiteren Durchblättern der Sagensammlung fällt vor allem die Sagendichte im Odenwald auf, wo nahezu jedes Dorf seine eigene sagenhafte Erzählung hat. So wurde beispielsweise den Bewohnern des heutigen Lautertaler Ortsteils Knoden, das gemeinsam mit Breitenwiesen 102 Einwohner zählt, die Fähigkeit des „Bannens und Festmachens“ nachgesagt. Diese „Knodener Kunst“, andere Menschen durch Zauberei zu beeinflussen, sollen unter anderem ein Mann namens „Rettig“ und der „Bitsche Nickel“ besessen haben. Zwingenberg mit seinen über 7300 Einwohnern hat in der Sagen-und-Mythen-Rubrik dagegen wenig zu bieten. Etwas überraschend für eine Stadt mit einer derart reichhaltigen Geschichte, die seit 1274 die Stadtrechte besitzt – so lange wie keine andere Kommune an der hessischen Bergstraße.
Der Stadt am Fuße des Melibokus fehlt eine solch lokale mythisch-magische, häufig in historisch wahre Begebenheiten eingebettete Erzählung wie sie in der Nachbarschaft etwa Bensheim aus dem Dreißigjährigen Krieg mit der „Fraa vun Bensem“ vorweisen kann, die sogar Einzug in den täglichen Sprachgebrauch („Hinne rum wie die Fraa vun Bensem“) gefunden hat. Weder in der ausführlichen Chronik zum Jubiläum „700 Jahre Stadtrechte Zwingenberg“ (1974) noch in einer kleinen Stadtchronik aus dem Jahr 1952 ist etwas zu Zwingenberger Sagen und Mythen vermerkt. Beim örtlichen Geschichtsverein ist in dieser Richtung ebenfalls nichts bekannt, wie eine Nachfrage ergibt.
Religion ließ kaum Raum für Mythen und Sagen
Warum ist die Sagenlage ausgerechnet in Zwingenberg recht dünn? Berenike Neumeister führt mehrere Faktoren an. Zum einen habe die Christianisierung mit ihren eigenen religiösen Erzählungen und „Wundern“ im Laufe der Jahrhunderte Mythen und Sagen verdrängt. „Dafür gab es kaum noch Raum.“ Zumal Erzählungen oder Anschauungen, die im Widerspruch zu kirchlich-religiösen Glaubenssätzen standen, durch die Inquisition des Spätmittelalters und der Frühneuzeit verfolgt und bestraft wurden.
Marktrechte und Wechsel zum Protestantismus
Überdies habe die Verleihung der Marktrechte an Zwingenberg durch Rudolf von Habsburg im Jahre 1274 und die geografische Lage an einer Handelsroute für regen Personen- und Warenverkehr gesorgt. Dieses lebhafte und geschäftige Treiben könne ebenfalls dazu beigetragen haben, dass sich keine örtlichen Legenden entwickelt und im kollektiven Gedächtnis verfestigt haben. „In ländlich geprägten, abseits gelegenen Gebieten mag das anders gewesen sein.“
Zudem seien lokale Sagen und Mythen nach dem Wechsel des Hessischen Landgrafen Philipp I. zum Protestantismus 1526 auf wenig Widerhall im nun evangelischen Zwingenberg gestoßen. „Die eher nüchternen Protestanten waren für solche Geschichten wohl wenig zugänglich“, vermutet Berenike Neumeister.
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