Lorsch. Als sich die Wingertsbergschule vor knapp 20 Jahren auf den Weg machte, eine „bewegte Schule“ zu werden, gab es anfangs Hürden zu überwinden. Gegen Kinder, die sich auf dem Pausenhof auspowern, hat niemand etwas einzuwenden – aber wippen und kippeln im Unterricht? Stühle, die sich drehen und verstellen lassen für alle Klassenzimmer sowie Matten, die dazu einladen, auch einmal auf dem Boden liegend zu rechnen und zu schreiben? Das erschien manchem Erwachsenen doch übertrieben zu sein – und dem Lernen nicht förderlich.
Inzwischen aber weiß man, dass es im Gegenteil vernünftig ist und auch im Klassenverband funktioniert. Die Lorscher Grundschule gehörte bundesweit zu den ersten, die aufgrund der Erkenntnis von Experten für alle neue Schulmöbel anschaffte. Mitwachsende Stühle und unverwüstliche Stehkissen gehörten etwa dazu. Die „bewegte Schule“ wurde ein Erfolg. Als in diesem Sommer die Räume in der „Schule am Hang“ auf dem ehemaligen Bolzplatz auszustatten waren, gab es keine Diskussion mehr darüber, dass herkömmliche Holzmöbel, wie sie für Generationen von Schulkindern üblich waren, für junge Lorscher dort nicht mehr in Frage kommen.
Rückwärtslaufen hilft bei Mathe
Wer sich in dem aus Unterrichtscontainern erbauten Gebäude umschaut, trifft auf Erst- bis Viertklässler, die in den unterschiedlichsten Haltungen lernen und arbeiten. Er sieht zum Beispiel einen Jungen, der sein Heft auf einem kleinen Kasten ausgebreitet hat und dort kniend sehr konzentriert einen Text schreibt. Er kann auch ein Mädchen entdecken, das hinter dem Bücherregal auf dem Bauch liegend in eine Geschichte vertieft ist. Wie er seine Schularbeit erledigt, das kann sich über den Tag verteilt jeder weitgehend selbst aussuchen.
Ob mehr Bewegung in jedem Fall klüger macht, die Intelligenz erhöht oder fittere Kinder zwingend bessere Noten heimbringen, darüber kann man streiten. So sehr Rückwärtslaufen räumliche Wahrnehmung, Koordination und mathematisches Verständnis fördern – vom Rennen allein kann man sich das nötige Schulwissen natürlich nicht aneignen. Sicher aber ist, dass es der Gesundheit und dem Lernen schadet, wenn man stundenlang fast unbeweglich sitzt, wie es heute oft die Regel ist. Denken und Bewegen hängen zusammen.
Sitzträgheitsfalle ausgetrickst
Während man früher im Alltag noch viel aktiv sein musste – es blieb einem nicht anderes übrig – lädt die Umgebung heutzutage dagegen sehr zu Bequemlichkeit ein. Smartphone und Computer bringen jedem die Welt nach Hause, die Digitalisierung macht viele Wege überflüssig und manche Kinder legen nicht einmal mehr den Schulweg zu Fuß zurück. Die gefürchtete Sitzträgheitsfalle mit ihren gesundheitlichen Folgen ist allgegenwärtig – in der Wingertsbergschule aber nicht.
Dort hat man die Zeit nicht zurückgedreht, aber man weiß, wie wichtig Bewegung für die körperliche und geistige Entwicklung im ersten Lebensjahrzehnt ist. Die Grundschüler arbeiten deshalb in einer bewegungsfördernden Umgebung.
Wie im Büro lässt sich zwar auch in der Schule langes Sitzen nicht grundsätzlich vermeiden. Man kann aber dazu beitragen, dass der Körper seinen natürlichen Bewegungsdrang trotzdem nicht verkümmern lässt. Stühle mit Wippmechanik etwa fördern ein dynamisches Sitzen mit häufigen Positionswechseln. Wer auf einem der bunten Exemplare in der Wingertsbergschule Platz nimmt, bleibt fast automatisch aktiv. Die beweglichen Möbel sind gut für die Wirbelsäule und die Hirnleistung, Muskulatur und Bandscheiben werden besser durchblutet.
Bieten die variablen Möbel der Grundschule mehr Potenzial zum Stören?
Volker Albert kennt die Auswirkungen stundenlangen starren Sitzens aus seiner beruflichen Praxis. Er ist Diplom-Sportlehrer und Physiotherapeut. Der Lorscher war Initiator der Aktion „Bewegtes Klassenzimmer“ am Wingertsberg. Er startete sie damals, als seine Tochter in die Grundschule ging. „Ich war bei allen Elternabenden“, erinnert er sich und er konnte alle von der Sinnhaftigkeit der Veränderung überzeugen. Der Förderverein der Schule und Sponsoren unterstützten die Anschaffung moderner Möbel.
„Lebendiges Sitzen“ ist für manchen älteren Betrachter gewohnheitsbedürftig, wenn er an seine eigene Schulzeit und das geforderte strikte Stillsitzen zurückdenkt. Auf den modernen Stühlen schließlich kann und darf man auch verkehrt herum sitzen. „Das ist total gemütlich“, führt Volker Albert vor. „Die Wirbelsäule will keine Einheitshaltung“, erläutert er. Werden ihre Wünsche aber dauerhaft missachtet, versteift der Bewegungsapparat vorzeitig. Auf einem Bein können viele Erwachsene schon im mittleren Alter keine zehn Sekunden mehr stehen, das ist zum Beispiel schlecht für das Gleichgewicht. Fordern die variablen Möbel Grundschüler aber nicht dazu heraus, auch unnötig viel an ihnen herumzudrehen, Unfug zu machen und ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dem Unterrichtsstoff? Jutta Rothfritz verneint das. „Es gibt klare Absprachen“, unterstreicht die Schulleiterin.
Wer seinen Stuhl nur dazu nutze, um zu stören, der müsse vielleicht doch mal wieder ein paar Minuten auf einen Holzstuhl wechseln. „Aber das wollen sie nicht“, sagt die Pädagogin. Die Kinder würden keinesfalls permanent hoch und runter fahren, sondern die Nutzung der Möbel einfach „genießen“.
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