Theater Sapperlot - Langer Applaus für Georgette Dee / Diseuse und Diva

Weltgeschichte in drei Minuten in Lorsch

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tr
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Georgette Dee © Gutschalk

Lorsch. Vor drei Jahren hatte sie mit einem Kurt-Weill-Abend für magische Momente gesorgt. Nun verzauberte Georgette Dee erneut das Lorscher Publikum mit dem Programm „Nachtgesänge“. Eine dunkle Reise durch die Tiefen der Seele mit Ausflügen in Sehnsüchte und Traumwelten, Abgründe und Begierden. Im Theater Sapperlot eruptierte eine Diva, die monumentales Pathos und spöttisch-frivolen Humor in charismatischer Dichte vereint wie niemand anders in diesem Genre.

Deutschlands schillerndste Diseuse der Gegenwart versteht es, jedem Lied eine eigene Nuance zu schenken und selbst der dicksten Patina eine persönliche Note zu geben. Gehauchte Obsessionen und schäumende Ausbrüche, filigrane Gesänge und männlich-rauchiges Brummen fusionieren in einer Ikone mit tief dekolletierten Kleid und zeitloser Bühnenpräsenz. Es war einer dieser Abende, bei dem man hinterher glücklich war, zur richtigen Zeit den richtigen Ort aufgesucht zu haben. Begleitet wurde die Künstlerin von ihrem langjährigen Bühnenpartner Terry Truck am Flügel, mit dem sie seit Beginn der 80er Jahre zusammen arbeitet.

Markante Zigarettenstimme

In bodenlanger Robe thront sie neben dem Piano, nippt am Gin und erzählt zwischen den Songs mit markanter Zigarettenstimme erhellend ungerührt, lebensklug und selbstironisch die Geschichten, die das Leben launisch textet. Es geht um in Weltschmerztränen schwimmende Mettbrötchen, die Unsterblichkeit des Wassertropfens und um die Faszination der Synchronizität im Weltenlauf. Georgette Dees Auftritt ist unsentimentale Standortbestimmung und souveräne Krisenbewältigung mit austariertem Pathos, ein Abstreifen des biografischen Ballasts und ein frecher Blick voraus. „Du musst das Leben nicht verstehen, dann wird es werden wie ein Fest“, zitiert sie Rilke – die poetisch blühenden Blüten kommen zum Finale von der Theaterleitung. Mit Joseph von Eichendorffs spätromantischer „Wünschelrute“ wird der Abend im gut besuchten Haus eröffnet. Traum und reale Welt verschwimmen, das dichterische Zauberwort öffnet den Raum zur Unendlichkeit, in der sich auch die Kunstfigur Dee am liebsten bewegt. Ohne Grenzen und Zwänge, abseits von Schubladen und Erwartungshaltungen.

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„Mir geht`s gut“ singt sie trotzig, ironisch und kraftvoll: „In meinem Herzen wächst ein Baum, daran häng ich die Spießer auf.“ Feinde und Beleidigungen werden nicht mehr beweint, sondern konsequent vergessen. Eine Arie des Trotzdem zum aufkeimenden Stakkato-Piano des britischen Musikers und Komponisten Terry Truck, der die Sängerin gewohnt elegant und pointiert musikalisch in Szene setzt und mittlerweile eine umwerfende aristokratische Noblesse ausatmet. Eine wunderbare Konstellation auch noch nach 40 Jahren. „In meinem Alter ist man für Viren nicht mehr so interessant“, so Dee, die auf der Bühne auch mit 63 virtuos zwischen Verletzlichkeit und Stärke hin und her tanzt.

„Warum ist die Arsch so warm?“, haucht das androgyne Mysterium der Szene mit offener Seele ins Lorscher Auditorium. Sentimentalitäten und Zoten sind fein austariert. Georgette Dee kommentiert erotische Fantasien aller Geschlechter, ohne dabei in eine Richtung abzutreiben. Dann sing sie Hans-Eckhardt Wenzels „Zeit der Irren und Idioten“ und sieht dabei tatsächlich aus wie Barbara Sukowa. Eine Ähnlichkeit, mit der sie immer wieder gerne kokettiert.

Künstlerisch dominieren die Kontraste: zwischen Schubert und Schlager, eigenen Liedern wie „Zehn Frauen“ und einer grandiosen Variante von Tom Waits` „All The World Is Green“ streut sie die „Wilde Welle“ von Axel Prahl ein.

Immer wieder zieht sie den Zuhörer in die warmen Sümpfe der Melancholie hinein, aus denen man sich bisweilen nur schwer befreien kann. Vielleicht hat die Diva tatsächlich ein Talent dafür, wie sie es einmal in einem Interview mutmaßte, in allen Menschen quer durch die Geschlechter und sexuellen Orientierungen eine emotionale Reaktion zu entfachen, ohne sich groß dafür anstrengen zu müssen.

Ihre Lieder, Texte und Aphorismen machen das Leben sichtbar und spürbar: fröhlich und dramatisch, traurig und tapfer, klug und kantig. Große Schmerzen in kleinen Leben, verwirrend schön und rätselhaft betörend.

Frei nach Erich Kästner inszeniert Dee das Chanson als Weltgeschichte in drei Minuten. Die Magie über der Dramaturgie entsteht, wenn das Lied mit der Sängerin eins wird und eine ätherische Strahlkraft entsteht, die sich für einen Moment auf das Publikum überträgt. Das kam im Sapperlot praktisch pausenlos vor. Dafür gab es langen Applaus. Und schöne Blüten. tr

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