Lorsch. Eine Reihe von sehr bewegenden Momenten erlebten mehr als 120 geladene Gäste am Dienstagabend im Paul-Schnitzer-Saal. Im Mittelpunkt einer Festveranstaltung, zu der Herbert Fanese eingeladen hatte, standen schwerste Schicksale. Um Menschen ging es, deren Leben sich durch einen Unfall oder einen Schlaganfall in Sekunden so änderte, dass sie plötzlich dauerhaft nicht mehr sprechen, sich nicht mehr bewegen konnten – und um Menschen, denen es mit enormer Tatkraft gelang, für die schwerstbeeinträchtigten Patienten einen Platz zu schaffen, an dem ihnen ermöglicht wird, ein würdiges Leben zu führen: in Lorsch zum Beispiel.
Herbert Fanese wollte an der Bergstraße eine Einrichtung realisieren für Patienten mit schwersten neurologischen Erkrankungen. In Lorsch fand er damals Interesse und die nötige Unterstützung für sein Vorhaben, etwa beim Magistrat und der Entwicklungsgesellschaft (EGL). 2019 baute er sein „Fachpflegezentrum (FPZ) für Erwachsene im Wachkoma“. Das Haus in der Hildegard-von-Bingen-Straße ist längst über alle Grenzen hinweg bekannt, die knapp 50 Plätze dort sind stets belegt, es gibt eine Warteliste, jede Woche Anfragen – und die Arbeit, die Fanese leistet, wird hochgeschätzt.
Das zeigte sich nun auch bei dem neuesten Projekt von Fanese. Der 48-Jährige hatte zur Gründung seiner „Stiftung Extraluft gGmbH“ in den Paul-Schnitzer-Saal eingeladen. Sie will dort helfen, wo die Regelversorgung endet. Sie will mit Spenden „zusätzliche Atemzüge“ für Patienten und ihre Angehörigen möglich machen. Dass es zahlreiche Wünsche gibt, für deren Verwirklichung Gelder gebraucht werden, weiß Fanese gut. Er ist ein Experte mit jahrzehntelanger Erfahrung, ist nach Ausbildungen als Steuerfachangestellter, Altenpfleger und Qualitätsmanager im Gesundheitsdienst seit 25 Jahren im Pflege- und Gesundheitswesen tätig – und voller Energie, weitere Verbesserungen für Schädel-Hirnpatienten auf den Weg zu bringen. Das können besondere Therapieangebote sein, rollstuhlgerechte Zugänge, höhenverstellbare Möbel, ein Ausflug ins Grüne.
Es gab kein Klinikbett für den sterbenskranken Sohn
Wie völlig alleingelassen Betroffene noch vor wenigen Jahren waren, das schilderte Armin Nentwig der Festgesellschaft. Der Oberpfälzer ist Bundesvorsitzender des gemeinnützigen Verbandes der Schädel-Hirnpatienten, die erste Selbsthilfegruppe gründete er vor 36 Jahren. Damals starb sein Sohn, der beim Skifahren von einer Lawine verschüttet wurde. Er konnte gerettet werden, aber es gab „in ganz Deutschland keine einzige Klinik, die meinen Buben genommen hat“, berichtete er.
Durch seine damalige Funktion als Abgeordneter des bayerischen Landtags habe er sich in einer herausgehobenen Position befunden, so Nentwig in seinem erschütternden Rückblick. Es sei ihm aber so ergangen wie Zehntausenden Betroffenen vor ihm: Es gab nirgendwo ein Angebot zur Rehabilitation.
Nentwig schilderte eindrücklich, wie er in seiner Verzweiflung erfolglos von Bundesland zu Bundesland zog und auch gegenüber dem verantwortlichen Minister in Bayern einen „Riesenwirbel“ auslöste. Hilfe für Wachkoma-Patienten interessierte jedoch offenbar niemanden. Sein Sohn starb. Nentwig gründete daraufhin den Selbsthilfeverband.
Ein schweres Schicksal kann jeden Menschen jederzeit treffen
Dass es jeden Menschen jederzeit treffen kann, machte die Lorscher Veranstaltung deutlich. Ein Sturz, eine Hirnblutung, ein Tumor können jeden unvermittelt in eine völlig hilflose Situation zwingen. Dank der Pionierarbeit von Armin Nentwig und seinen Nachfolgern gibt es heute zumindest Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene und Angehörige. Man habe inzwischen doch einiges bewegen können, so Nentwig. Er wurde mit seinem Bundesverband kürzlich sogar in China ausgezeichnet, Präsident Xi Jinping habe gratuliert, erzählte der Bayer in Lorsch. „Großen Respekt“ zollte Nentwig, der eigens aus Amberg mit dem Zug angereist war, Fanese und dessen unermüdlichem Engagement.
Alle der insgesamt sieben Festredner würdigten die Arbeit, die Fanese mit großer Fachkenntnis sowie zugleich großer Leidenschaft leistet, in den höchsten Tönen. Besonders berührend war die Rede von Stefan Schröder, einem Patienten, der nach einem schweren Schlaganfall seit zwei Jahren im Lorscher Fachpflegezentrum lebt. Als er dort einzog, habe der 56-Jährige weder sprechen noch selbstständig essen können. Er galt als „austherapiert“, erläuterte Fanese, wie das im gnadenlosen medizinischen Jargon heißt.
Im Lorscher Haus mit vollstationärer Betreuung aber machte der Bewohner wieder Fortschritte. Heute kann der Patient seine Arme wieder so nutzen, dass er selbst seinen Rollstuhl bewegen kann. Er habe begonnen, erste Schritte zu gehen und ist wieder in der Lage, ein wenig zu sprechen. Im Paul-Schnitzer-Saal richtete Schröder vom Rollstuhl aus eine kleine Rede an das Publikum.
Das Sprechen koste ihn große Kraftanstrengung, erfuhren die Zuhörer, Schröder schaltete nach einigen Sätzen dann auch um auf seinen Sprachcomputer. Deutlich vernehmbar sagte er aber in direkter Ansprache selbstständig an seine Zuhörer, dass er sich im Fachpflegezentrum „sauwohl“ fühle und er erntete kräftigen Applaus für seine Rede.
Schröder sei ein ermutigendes Beispiel dafür, was möglich sein kann, wenn Betroffenen nicht den Glauben an sich verlieren und sie nötige Hilfe erhalten. Denjenigen eine Stimme geben, die in ihrer Situation nicht kommunizieren können, ist ein zentrales Anliegen auch von „Extraluft“. Er habe auch selbst erfahren, wie es sich anfühlt, keine Luft mehr zu kriegen, bekannte Herbert Fanese. Er habe sich einer Lungen-Operation unterziehen müssen. Seine Frau, seine Familie und enge Freunde an der Seite zu haben, die ihm beistanden, sei ein riesiges Glück, so der FPZ-Gründer.
Zahlreichen Schädel-Hirn-Patienen widerfährt nicht einmal annähernd ähnliche Hilfe. Auch ein großer Teil der Bewohner im Fachpflegezentrum habe keine Familie, keinen Menschen, der durch tägliche Anwesenheit heilsamen Trost spenden kann. Mit „Extraluft“ wolle er Patienten mehr als medizinische Versorgung bieten, ein Stück Teilhabe trotz schwersten Erkrankungen und Intensivpflege, erläutert Fanese.
Es sei sein „Herzensprojekt“, unterstrich Fanese als Gründer und ehrenamtliche Geschäftsführer der „Extraluft“. Um eine klassische Stiftung im rechtsfähigen Sinn handle es sich nicht, erläuterte er. Der Namensbestandteil „Stiftung“ in der Extraluft gGmbH solle das Leitbild verdeutlichen, die gemeinnützige GmbH das „Werkzeug“, um die Ziele zügig zu erreichen. Fanese hofft, dass gerade Unternehmen aus der Region mit Spenden und als Sponsoren „Extraluft“ unterstützen und so auch Rehabilitationsmaßnahmen ermöglicht werden, die nicht im Leistungskatalog der Krankenkassen stehen.
Von Erfolgen durch Tiergestützte Therapie berichtete dem Publikum Sabine Müller, die mit einem Spanischen Windhund an der Versammlung teilnahm. Manches „Wunder in Zeitlupe“ habe sie erlebt. Tiere können Türen öffnen, etwa für Menschen, die beatmet werden müssen, und nicht mobil sind. Auch jederzeit einsetzbare faltbare Rampen für Rollstuhlfahrer können Lebensqualität für Schwerstkranke verbessern. Fanese hat viele Beispiele, wie „Extraluft“ helfen kann. Die Mutter einer Familie mit zwei kleinen Kindern lebt seit fünf Jahren im FPZ, inzwischen ist der Familienvater gestorben. „Wir erleben täglich schwere Schicksale“, sagte Fanese.
Robin Chatterjee, Vorstand der Sparkasse Starkenburg, erinnerte daran, dass Fanese Überzeugungsarbeit leisten musste. Vielen Banken sei sein Projekt damals riskant erschienen. Er habe auch „Bürokratieschlachten“ schlagen müssen, hieß es. Bürgermeister Christian Schönung, Stadtverordnetenvorsteherin Christiane Ludwig-Paul, Dr. Matthias Zürker als Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Bergstraße und weitere Redner bescheinigten Fanese, mit großer Kenntnis, Unternehmergeist und sehr viel Herzblut Großartiges zu leisten.
Fühlen, aber nicht sprechen können
Wachkoma, als Apallisches Syndrom bezeichnet, gehört zu den schwersten neurologischen Erkrankungen. Betroffene können nicht bewusst mit ihrer Umgebung kommunizieren. Funktionen wie Herzschlag, Speichelfluss und Verdauung aber bleiben erhalten und: „Patienten im Wachkoma fühlen, spüren und empfinden“, heißt es vom Verein Schädel-Hirnpatienten mit Sitz in Amberg. Fast alle Patienten zeigten emotionale Reaktionen.
Dass Patienten im Wachkoma Rehabilitation erhalten müssen, sei gesetzlich verankert, erinnert der Verein. Physio- und Ergotherapie helfen, Logopädie, neurologische Betreuung. Angehörige können im Reha-Prozess eine zentrale Rolle spielen, wissen Vereinsmitglieder. Zudem können mit Musik- sowie Tiergestützter Therapie Wahrnehmungen geweckt werden. sch
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