Lorsch. Die Pogromnacht im November 1938 war der Beginn des Holocaust. „Erinnerung ist Verantwortung“, erklärte Bürgermeister Christian Schönung in seiner Ansprache bei der Gedenkstunde am Sonntagabend. Sechs Millionen Juden wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Auch in Lorsch wurde die Synagoge angezündet. „Familien, die über Generationen Teil unserer Stadt waren, verschwanden“, erinnerte Schönung an Deportationen. Die Namen jüdischer Lorscher, ihre Geschichten und Stimmen seien ausgelöscht worden.
„Eine Selbstverstümmelung“
Als ein „Fanal des Hasses“ bezeichnete Thilo Figaj die Pogrome. „Der Zivilisationsbruch einer Kulturnation“, so machte es der Vorsitzende des Lorscher Heimat- und Kulturvereins in seiner Rede an der Gedenkstätte in der Schulstraße deutlich. Dass das Verbrechen der Vernichtung jüdischen Lebens zugleich auch eine „Selbstverstümmelung Deutschlands“ war, zeigte er auf.
Wissenschaftler und Künstler flohen in großer Zahl ins Ausland. „Nach 1945 blieb ein Vakuum“, sagte Figaj: „Die deutsche Kultur wurde ärmer, einseitiger, stiller.“ Deutschland, das sich gern als „Land der Dichter und Denker“ bezeichne, habe seine Gelehrten und Künstler selbst verstoßen. Zu den immensen materiellen Verlusten zählen zerstörte Gebäude, Kunstgegenstände, geraubtes Gold und Silber. 135 Tonnen geplündertes Silber, etwa aus deutschen Synagogen, seien im Auftrag der Reichsbank eingeschmolzen worden, um die Kriegsrüstung des Deutschen Reiches zu finanzieren.
Aber die unsichtbaren Verluste seien noch weitaus größer, so der Vorsitzende des Heimat- und Kulturvereins, der zugleich ein exzellenter Kenner der jüdischen Regionalgeschichte ist. Es verschwanden Lieder, die niemand mehr singt, Feste, Gebetsmelodien und Wörter, die kaum noch jemand kennt.
Beim Gedenken stand in Lorsch in diesem Jahr der Verlust kultureller Identität im Mittelpunkt. Das Judentum war „ein Teil dessen, was Deutschland zu dem gemacht hatte, was es einmal war“, erinnerte Thilo Figaj an herausragende Künstler sowie verfolgte Unternehmer wie etwa den Verleger, Gottfried Bermann Fischer, der den bedeutenden S. Fischer Verlag leitete.
Der Lorscher Heimat- und Kulturverein sehe sich in einer besonderen Verantwortung, erläuterte der Vorsitzende. Er pflege eben nicht nur Traditionen und Blumenbeete, sondern auch „das Bewusstsein dafür, was einmal war und was verloren ging“. Wer Geschichte erzähle, müsse auch Leerstellen sichtbar machen. „Heimatgeschichte ohne die jüdische Geschichte ist unvollständig“, unterstrich Figaj. Aufgabe sei es, Spuren zu suchen: in Archiven, Familiengeschichten, Erinnerungen. Es gelte, Initiativen zu unterstützen, die die verlorene Kultur wieder hörbar und sichtbar machen. Das sei „kein nostalgischer Blick zurück“, betonte Figaj, sondern „der Versuch, das zerstörte Gewebe unserer Geschichte neu zu knüpfen.“
Kultur ist das, was uns als Gesellschaft zusammenhält – und jüdische Kultur war jahrhundertelang ein selbstverständlicher Teil Deutschlands, machte Figaj in seiner Rede klar. „Kultur ist Beziehung. Und Beziehung braucht Erinnerung“, erläuterte er. Um jüdischer Kultur „wieder einen Raum zu geben und sicherzustellen, dass diese Kultur und vor allem ihre Musik nicht verloren geht“, wie Bürgermeister Schönung erklärte, hatte die Stadt in diesem Jahr den Termin des klassischen Rathaus-Konzertes umgestaltet in einen Abend mit jüdischer Musik.
Dieter Kordes, einer der Künstlerischen Leiter der Reihe, wurde gebeten, ein Programm dafür zusammenzustellen. Bei freiem Eintritt war jeder Interessierte dazu im Paul-Schnitzer-Saal willkommen. Die Auswahl und die Darbietung kamen beim Publikum sehr gut an. Kordes hatte bewusst einen Mix aus getragenen und fröhlichen Melodien ausgewählt. Sein Ensemble mit Chiara Metzner an der Violine, Sven Hack an der Klarinette und dem Sopran-Saxophon, Frank Willi Schmidt am Kontrabass und Tommy Debus Woller am Schlagzeug überzeugten.
Kordes spielte den Flügel und moderierte, und bei manchen Stücken übernahm er – mangels Sänger in der Formation – auch noch diesen Part. „Ich bin kein großer Sänger“, räumte Kordes gegenüber dem Publikum ein. Große Hits, wie etwa der „Kleine grüne Kaktus“, von den berühmten „Comedian Harmonists“ lassen sich aber nun einfach nicht rein instrumental darbieten. Die Berliner Formation mit mehreren jüdischen Mitgliedern war schließlich eine Gesangsgruppe.
Auch „Wochenend und Sonnenschein“ sowie „Ein Freund, ein guter Freund“ von den Comedian Harmonists hatte Kordes ausgesucht, bei den Titeln sangen auch einige Zuhörer leise, aber textsicher mit. Dass das Lied im Film „Die drei von der Tankstelle“ gesungen wird, von Heinz Rühmann und Willy Fritsch, wussten einige Zuhörer gleichfalls.
Klezmer-Musik – das Genre, das die meisten Laien mit dem Begriff jüdischer Musik verbinden – stand am Sonntagabend nicht im Zentrum. Denn Klezmer war keine deutsche jüdische Musik, die durch die Nazis ausgelöscht wurde. Sie wurde als nicht-liturgische Musik in ostjüdischen Gemeinden gepflegt, informierte Thilo Figaj.
Auf Klezmer nicht verzichtet
Weil Klezmer aber ungemein beliebt ist, hatte Kordes zur Freude des Publikums nicht gänzlich darauf verzichtet. Als Traditional ließ sein Ensemble etwa „Mazel Tov“ erklingen, der Titel lässt sich mit „Viel Glück“ übersetzen und wurde zum Beispiel zu Hochzeiten gespielt. Auch das noch heute verbreitete „Bei mir biste scheen“ aus dem Jahr 1932 wurde gegeben, in einer von Kordes neu geschriebenen Version.
Filmtitel von Ennio Morricone und klassische Werke – eine Beethoven-Symphonie und Bachs „Air“ zum Beispiel sowie der „Second Waltz“ von Schostakowitsch – gehörten gleichfalls zum Programm, das insgesamt 20 Stücke beinhaltete. Drei Titel machten das Konzert zu einem besonderen Abend in Lorsch und wären wohl in keinem anderen vergleichbaren Programm zu hören gewesen, denn sie stammten von Julius Krakauer und sorgten somit für einen direkten lokalen Bezug.
Eine Ehre, die noch keinem zweiten Lorscher widerfuhr
Krakauer, der in den USA Karriere als Pianist und Komponist und vor allem als Klavierbauer machte, wurde 1843 in Lorsch geboren. Das Unternehmen „Krakauer Brothers“ führte er an die Spitze des amerikanischen Pianobaus, so Figaj. Es habe sich auf Augenhöhe des Konkurrenten Steinway befunden. Als Krakauer 1912 starb, widmete ihm die New York Times einen ausführlichen Nachruf. Von keinem anderen Lorscher habe er bislang gehört, dem eine ähnliche Ehre widerfahren wäre, so Figaj.
Krakauers „Amaryllis Galopp“ und „My Darling“ kamen beim Publikum so gut an wie auch „Wenn ich einmal reich wär“ aus dem Musical „Anatevka“ und die Filmmelodie aus „Schindlers Liste“. Für die Spielfreude des Ensembles, die ansteckte, gab es Bravo-Rufe und Applaus im Stehen. Dass Kordes und seine Musiker sogar noch zu einer Zugabe bereit waren, freute alle. Nur die Auswahl des Zusatz-Titels war nach Meinung einiger Zuhörer unglücklich. „Blues Suede Shoes“ von Elvis Presley passte nicht zum Anlass des Pogromgedenkens. Angesichts des fulminanten Konzerts verzieh das Publikum diese Entscheidung aber gern.
In Lorsch hält unter anderem der Heimat- und Kulturverein die Erinnerung an das jüdische Lorsch lebendig. 55 Stolpersteine wurden vor Häusern verlegt, aus denen Lorscher einst deportiert wurden. Auch ein Gemälde wurde zurückgegeben, das der jüdischen Familie Kahn bei der Flucht geraubt wurde. Zehn Jahre fahndete Thilo Figaj nach diesem Bild vom Melibokus. Im November 2024 konnte es – spendenfinanziert durch den Lorscher Verein – an die nun in den USA lebende Familie zurückgegeben.
Dass es keine Unterstützung durch deutsche Behörden gab, kritisierte der Vereinsvorsitzende in seiner Rede zum Pogromgedenken. Die damalige Kulturstaatsministerin der Bundesregierung, zu deren Aufgabenbereich die Restitution gehört, habe weder Amtshilfe durch Konsulate geleistet oder bei der Ausfuhranmeldung geholfen und sich schon gar nicht finanziell bei der aufwändigen Rückgabe in die USA beteiligt. Lediglich eine „dürre Dankesmail“ des Ministeriums habe es nach der erfolgreichen Übergabe für das Lorscher Engagement gegeben.
„Der unmittelbare Einblick in die Arbeit des Ministeriums an dieser Stelle wirft für mich die Frage auf, mit welcher Ernsthaftigkeit deutsche Behörden fast 90 Jahre nach den Raubzügen Restitutionen betreiben“, merkte Figaj in seiner Rede kritisch an. sch
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