Lorsch. Ein attraktiver neuer Bühnenplatz für die Kerwerednerin, ein erstes Jubiläum für die Lorscher Zigarre „Lorsa Brasil“ – und das Freibier wird jetzt stilvoll in Gläsern ausgeschenkt: Die Kerb, die in Lorsch zusammen mit einem Tabakfest gefeiert wird, bot einige Neuerungen. Außerdem riss die Serie an Einhäuser Siegen im Schubkarren-Rennen. Aber natürlich wird grundsätzlich beim lorscherischsten aller Stadtfeste die Tradition hochgehalten. Zur liebgewordenen Pflege des Brauchtums gehört inzwischen zum Beispiel der Einzug der Ochsen.
Kuhfladen im Zentrum
Zwei Stunden vor der offiziellen Eröffnung der Kerb ratterten „David und Nancy“ die Nibelungenstraße entlang. Die Lauresham-Rinder zogen einen Leiterwagen mit der Ernte vom Tabakfeld. Ziel war die Königshalle. Dort wurde abgeladen. Wer die mächtigen Tiere verpasste, die ein sehr beliebtes Foto-Motiv abgeben, und diesmal zusätzlich vom neun Monate alten Nachwuchs „Bruno“ begleitet wurden, konnte noch lange später spüren, dass sie dagewesen waren: Sie hinterließen einige Kuhfladen – höchst seltene Hinterlassenschaften in heutigen Innenstädten.
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„Aller guten Dinge sind drei“, so hieß es am späteren Nachmittag auf dem Benediktinerplatz. Denn drei Schläge brauchte Bürgermeister Christian Schönung diesmal, bis er gemeinsam mit Marco Höhn das Freibier verteilen konnte. Ein 20 Liter-Fass hatte dieser aus dem Darmstädter Braustübl mitgebracht. Ausgegeben wurde es nicht in Pappbechern, sondern in Gläsern. Davon waren genug vorhanden und so machte es nichts, dass eines schon beim Andrang zum Ausschank zerbrach. Freibier schmeckt naturgemäß besonders gut. Mancher Durstige stellte sich sogar zweimal an – und hatte Erfolg.
Die Lorscher Kerb zieht wegen ihrer Besonderheiten Gäste auch von weither an. Zigarrenkistchen aus Lorsch sind als Mitbringsel gefragt. Ein junges Paar hatte sich zum Beispiel aus Heidelberg aufgemacht, um erstmals die „Lorsa Brasil“ zu testen, die seit zehn Jahren wieder regelmäßig hergestellt wird. „Schmeckt gut“, stellte es nach den ersten Zügen im Café fest. Amanda Reinprecht war aus Lampertheim nach Lorsch gekommen. Sie nutzte die Gelegenheit, mehr zu erfahren über die Arbeit der Tabakbauern. In Lorsch kann man nicht nur zuschauen, wie die „Lorsa Brasil“ mit Tabakblättern vom Lorscher Feld entsteht, man darf auch selbst ran. „Spannend und toll“, urteilte die Nichtraucherin über die für sie ungewohnte Handarbeit.
Ausgestattet mit einer langen Tabaknähnadel und angeleitet von Lorscher Ehrenamtlichen konnte jeder die Blätter einzeln am Stielansatz durchstechen und auf einem Faden aufreihen. Wissen bewahren und verdeutlichen, „wie sehr sich die Leute geplagt haben“, das ist das Anliegen der Aktiven im Tabakprojekt. Lorsch blickt auf eine 300-jährige Tradition zurück, Tabak war lange ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor.
Home-Office anno dazumal
Vor allem viele Frauen erledigten die Arbeit daheim. Auch damals habe es also schon „Home-Office“ gegeben, erklärte Heribert Koob, der dem Publikum das Tabakprojekt vorstellte. Wer in der Gruppe mitwirken will, ist willkommen – sollte sich die Feldarbeit aber nicht nostalgisch verklären. Sie war und ist schwer. Ein Vorteil für die Ehrenamtlichen heute: „Sie brauchen anschließend kein Fitnessstudio mehr“, sagte Koob. Unter anderem die Rückenmuskulatur werde auf dem Feld gestärkt.
Für Jonas Schulte aus Frankfurt war die diesjährige Jubiläums-Brasil nicht die erste Lorscher Zigarre. Der Kerb-Besucher, der sich als Tabak-„Genießer“ bezeichnet, beurteilte das Exemplar, das zum zehnjährigen Geburtstag eine neue grüne Banderole mit Königshalle-Motiv erhielt, auf Nachfrage als „milder“ als den vorigen Jahrgang. Die „Lorsa Brasil“ habe „Charakter“, lobte er: „Man schmeckt, das Liebe darin steckt.“
Jetzt bloß nicht gegen Einhausen sticheln
Nicht mehr ebenerdig vor dem Alten Rathaus, sondern oben auf der Hauptbühne wird die Kerwe-Rede nun verlesen. Marion Walter in der Rolle als „Tabaknäherin“ das ganze Jahr über mitten im Geschehen, ist so besser zu sehen. Die Symbolfigur im neu geschneiderten Kleid erhielt viel Beifall für ihre Anmerkungen zum Stadtgeschehen, die vom aktuellen Streit um den Spielplatz in der Zedernstraße („warum werd eigentlich net in der Kettlerstraße gebaut“? )bis zum Austragungsort des Weihnachtsmarktes reichten. Das Stadtfest im Dezember wolle die Mehrheit längst wieder in der engen Stadtmitte „mit Körperkontakt“ feiern statt auf der „zugigen Klosterwiese“, so Walter.
Einigermaßen entsetzt kommentierte die Tabaknäherin, dass es – nachdem bereits die Kirchenglocken nachts nach einer Beschwerde schweigen müssen – nun auch eine Klage gegen den Weckruf des Spielmannszugs am Maifeiertag gab. Geht das so weiter mit Kritik an Traditionen, wird irgendwann auch noch der große Fastnachtsumzug verboten, befürchtete die Näherin, die „Ohrstöpsel“ empfahl und Zustimmung aus dem Publikum erfuhr.
Auffallend gut kamen diesmal in der Kerwerede die Einhäuser weg. Frotzeleien verbieten sich, denn sie könnten die Nachbarn veranlassen, ihre Mehrzweckhalle zu verschließen. Lorscher sind auf das Ausweichen dort wegen der bevorstehenden Sanierung ihrer Nibelungenhalle jedoch dringend angewiesen. „Hoffentlich gähn alle Akteure uff die Bühn a druff“, sorgte sich die Tabaknäherin.
Walter rief zum Zusammenhalt auf, dazu könne jeder beitragen, denn gutes Miteinander beginne in „unserem Kaff“. Wem die handgemachte Kerwerede nicht korrekt genug gewesen sein sollte: „Es woar holt koa KI drin versteckt“, erklärte sie abschließend. sch
Das offizielle Anrauchen übernahmen Mitglieder des Tabakprojekts. Für eine gute Zigarre nimmt man sich Zeit wie für ein besonderes Glas Cognac, so die Experten. Der Männergesangverein Germania begleitete die Zeremonie erstmals musikalisch.
Insgesamt sorgten rund 20 Bands für abwechslungsreiche Unterhaltung an den Feiertagen. Zudem zeigten Tanzgruppen Lorscher Vereine ihr Können. Zum Auftakt wirbelten drei Solistinnen der Bürger-Funken über die Hauptbühne und erhielten verdient viel Applaus. Erstmals gehörte auch ein Tanzcafé zum Kerwe-Programm, der Lorscher Tanzsportclub kümmerte sich im Weindorf darum. Neu war auch die gesellige Veranstaltung für Senioren im Paul-Schnitzer-Saal, die der Frauenbund mit köstlichen Kuchen belieferte.
Rund 60 Stände im für den Autoverkehr gesperrten Zentrum lockten unter anderem mit Pommes frites und Bratwurst, Cevapcici, Langos und Asiatischen Nudeln. Die Einzelhändler luden zum verkaufsoffenen Sonntag ein. Die Kinder hatten Spaß auf dem Karussell, der Schiffschaukel und dem Bungee-Trampolin. Zielgenauigkeit konnte man daneben an Schieß- und Wurfbuden beweisen.
Wer es etwas ruhiger haben wollte, besuchte die Ausstellung „Perspektiven“ im Museumszentrum, die wie auch der Tabakschuppen am Wochenende gratis geöffnet war.
Gestern Nachmittag war das Schubkarren-Rennen ein Anziehungspunkt. Diesmal siegten aber nicht wie zuvor die Einhäuser, sondern das Team mit Bürgermeister Christian Schönung setzte sich an die Spitze (Bericht folgt).
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