Pogromnacht

„Bedauerlich ist jedes Leben, das verloren geht“

Gedenken am Ehrenmal in Lorsch stand im Zeichen aktueller Ereignisse / Projekt „Stolpersteine“ ist nun abgeschlossen

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Norbert Weinbach
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Mehr als 100 Interessenten lauschten der Rede von Bürgermeister Christian Schönung bei der Gedenkstunde an der Ecke Stift-/Schulstraße. © Norbert Weinbach

Lorsch. Der 85. Jahrestag des Novemberpogroms der Nationalsozialisten stand am Donnerstag auch im Zeichen des Kriegs zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas in Palästina, wo sehr viele Menschen beider Seiten zu Tode gekommen sind. Die Auswirkungen des Hamas-Terrors und des Krieges in Nahost spiegle sich auch im Lebensumfeld ehemaliger Lorscher Juden wider, erklärte Thilo Figaj bei der Gedenkstunde für die ermordeten und vertriebenen Lorscher Juden am Ehrenmal in der Ecke Stift-/Schulstraße.

Gedenktafel verschwunden

Figaj sprach von einer „hässlichen Entwicklung“, vom Verschwinden der kleinen Gedenktafel am Haus der ehemaligen Synagoge in der Bahnhofstraße. „Die Entfernung oder die Nicht-Wiederanbringung dieser von der Stadt finanzierten Tafel ist eine Handlung aus eindeutig anti-semitischer Haltung“. Er forderte den Bürgermeister und den Magistrat auf, darauf hinzuwirken, dass die Tafel wieder an ihren Platz kommt. „Es ist unerträglich, dass der Ort der ehemaligen Synagoge von Lorsch nicht mehr entsprechend gekennzeichnet ist. Der Vorgang läuft allen unseren Bestrebungen einer glaubwürdigen Erinnerungskultur entgegen. Sollte dies nicht möglich sein, muss eine entsprechende Kennzeichnung im öffentlichen Raum gefunden werden, beispielsweise durch eine Stolperschwelle für die Synagoge im Trottoir“.

Bei der Verlegung der „Stolpersteine“ in der Bahnhof- und Kirchstraße (siehe Bericht auf der rechten Seite) hatten Mitglieder der Lorscher Jugendfeuerwehr Kerzen verteilt mit Informationen zu den Schicksalen Lorscher Juden. Die nahmen die rund fünfzig Interessenten mit auf den Marsch zur Gedenkstätte, wo sie etwa weitere 50 Menschen erwarteten.

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Von Nachfahren der Familien Kahn und Abraham in Los Angeles habe Figaj erfahren, dass bei konkurrierenden Pro-Israel und Pro-Palästina-Demonstrationen ein Jude ums Leben gekommen sei. Diese Nachricht sei nur zu erfassen, wenn versucht werde, die Frage, wo Juden sicher leben können, aus der jüdischen Perspektive zu beantworten. Aus Ramat Gan (Tel Aviv) habe ihm eine Nachfahrin der Familie Marx geschrieben, dass Söhne und Töchter zum Militär eingezogen seien, es täglich Luftalarm gebe und sie in Bunker flüchten müssten. Eine Nachricht von Liora aus New Jersey, der Enkelin von Ernst und Elaine Kahn, stimme ihn hoffnungsvoll. Sie sei politisch aktiv und habe nach den Ereignissen vom 7. Oktober an ihrer High School in Teaneck eine Gesprächsrunde Israel/Palästina gegründet. Es sei eine überregionale Initiative. An der Lorscher Dokumentationsstätte jüdischen Lebens fänden sich ebenfalls Schüler und ihre Lehrer zu gemeinsamen Projekten. „Es ist ein Projekt der Hoffnung, das nicht allein Geschichte vermitteln, sondern auch dazu beitragen soll, dass der Antisemitismus zurückgedrängt wird. Es ist eine Aufgabe, deren Zeitrahmen leider nicht in ein paar Generationen zu bemessen ist“, schloss Figaj seine Rede.

Bürgermeister Christian Schönung begann seine Rede mit einem Zitat der Jüdin Evelyn Eigermann, die ihre Erlebnisse vom 9. November 1938 in Danzig schilderte, als ein Kaufmannspaar von Hitlerjungen und SA-Männern in Zivil aus ihrem Antiquitätengeschäft geprügelt wurde. „Das Schlimmste war, dass die Leute geklatscht haben. Niemand ist ihnen zu Hilfe gekommen. Die Leute haben Bravo geschrien. Das hat mich in Panik versetzt“. Solche Beobachtungen seien vielfach überliefert, da in fast jeder Stadt, auch in Lorsch, am 9. November Synagogen, Geschäfte und Einrichtungen gebrannt hätten. In dieser dunklen Zeit lebten, Niederschriften zufolge, jüdische Familien in Lorsch, an deren Schicksal seit 2015 „Stolpersteine“ erinnern. Schönung nannte Familiennamen wie Kahn, Mainzer, Lorch, Mann, Abraham, Mayer, Jakob, Guthof, Schnauzer, Marx, Oppenheimer, Rohrheimer und Lichtenstein. Das Projekt „Stolpersteine verlegen“, das mit dem Heimat- und Kulturverein für jeden damaligen Lorscher Mitbürger, der aus Lorsch fliehen musste oder deportiert wurde, einen Stein bereit hält, sei damit abgeschlossen.

Pogromnacht war lange geplant

Das Stadtoberhaupt erinnerte, dass „die Ächtung jüdischer Mitbürger, bis hin zu dem Pogrom, zu den dunkelsten Kapiteln von Lorsch gehört. Die Novemberpogrome waren von langer Hand vorbereitet. Seit dem Sommer hatten die örtlichen NSDAP-Gauleiter Listen angelegt mit jüdischen Geschäften, Mitbürgern und ihren Familien“. Im Konzentrationslager Buchenwald seien von Inhaftierten zusätzliche Baracken gebaut worden. Schönung verwies darauf, dass die Bevölkerung seit der Machtübernahme 1933 vorbereitet worden sei. Damals habe Josef Göbbels schon die Parole ausgegeben „Kauft nicht bei Juden“. Er habe jüdische Beamte entlassen, Ärzten die Approbation entzogen, Künstler und Journalisten hätten Berufsverbote erhalten. 1935 hätten die Rassengesetze Eheschließungen mit Juden verboten, seit dem Sommer 1938 mussten Jüdinnen als zweiten Vornamen „Sarah“ und Männer „Israel“ in ihre Ausweise eintragen. Die „arische“ Mehrheitsbevölkerung sei durch diese Propaganda aufgehetzt worden. „So kam es, dass auch unsere Stadtgesellschaft in Lorsch es zuließ, dass am 9. November 1938 vormals geschätzte Mitbürgerinnen und Mitbürger deportiert wurden oder ausreisen mussten. Am erschütterndsten finde ich dabei, dass die deutliche Mehrheit nicht nur einfach schwieg, sondern auch noch applaudierte“.

Führung durch „Altes Schulhaus“

Christian Schönung verwies darauf, dass Professor Felix Leonhard im Anschluss an die Gedenkstunde im „Alten Schulhaus“ eine Führung vornehme. Dort sei im Mai die Dokumentationsstätte Landjudenschaft, „Jüdisches Leben in Lorsch, Südhessen und östlicher Kurpfalz“ eröffnet worden. Die Dokumentation in der Trägerschaft des Heimat- und Kulturvereins stelle das regionale Landjudentum in den Zusammenhang gesamtjüdischer Geschichte, überliefert würden persönliche Erfahrungen vom Mittelalter bis zum Niedergang im 20. Jahrhundert.

Die 102-jährige deutsche Überlebende des Holocaust Margot Friedländer, die mit 88 Jahren wieder nach Berlin gezogen war, habe, rückblickend auf ihr Leben, betont, wie wichtig ihr Menschlichkeit sei: „Wir sind alle gleich – es gibt kein christliches, muslimisches, jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. Ihr habt alle dasselbe. Wir kommen alle auf diese Art und Weise auf diese Welt. Wir sind Menschen, nichts anderes. Seid doch Menschen!“

Schönung erklärte, dass es für uns schwierig sei, „die Vorfälle in und um Israel zu verstehen, die regelmäßig zu militärischen Auseinandersetzungen führen. Bedauerlich ist jedes Menschenleben, das dabei verloren geht, egal ob jüdisch, muslimisch oder christlich. Zu verurteilen ist jedoch derzeit in Israel und Palästina die Vernichtung des Lebens von Zivilisten auf beiden Seiten. Hier wird unnötig Blut vergossen sowie der privaten Planung ein abruptes Ende gesetzt“.

Er appellierte: „Wir müssen mehr denn je achtsam bleiben. Wir müssen allen Aussagen in unserem Umfeld widersprechen, die antisemitische Vorurteile enthalten oder nicht demokratischen Parteien folgen. Setzen sie sich mit uns und dem Heimat- und Kulturverein dafür ein, dass antisemitische Haltungen hier geächtet werden, damit solche Pogrome nie wieder stattfinden.“

Er bedankte sich bei allen Anwesenden, dass sie Zeugnis abgelegt hätten für ein friedliches Miteinander aller Religionen. Gemeinsam mit der Stadtverordnetenvorsteherin Christiane Ludwig Paul legte er am Ehrenmal ein Blütengebilde ab mit dem Spruch: „In stiller Trauer - Stadt Lorsch“.

Freier Autor Seit mehr als 40 Jahren als freier Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitungen aktiv, Fotograf und Berichterstatter, im Regelfall waren/sind es Zeitungen die dem BA oder ganz früher, mit dem Echo verbunden waren. Berichterstattung meistens über Lorscher Vereine und Organisationen, früher auch Sport.

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