Lorsch. In Lorsch sind bereits über 50 Stolpersteine verlegt worden. Sie erinnern an Lorscher Juden, die in der NS-Zeit aus ihren Wohnungen deportiert wurden oder fliehen mussten. Vor ihren letzten Wohnstätten sind auf den Stolpersteinen ihre Namen eingraviert. Nun steht eine weitere Verlegung von Stolpersteinen an. Es handelt sich um die vorerst letzten in Lorsch.
In der Lindenstraße und in der Kirchstraße werden am 9. November (Donnerstag) Steine für die Familie Lichtenstein verlegt. Die Geschichte der Familie Lichtenstein in Lorsch hat Thilo Figaj, Vorsitzender des Lorscher Heimat- und Kulturvereins und ausgewiesener Kenner der jüdischen Regionalgeschichte, erforscht.
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Betty Lichtenstein, Schwester von Hermann Lorch, geboren am 29. November 1875 in Lorsch, heiratete 1898 in Lorsch den Mehl- und Fruchthändler Baruch Lichtenstein und zog mit ihm in dessen Heimatort Groß-Umstadt. 1930 wurde das Paar geschieden. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, Jenny (geboren 1899) und Jakob (1902). Baruch Lichtenstein verstarb 1932 und ist in Groß-Umstadt begraben.
Betty Lichtenstein wohnte seit ihrer Scheidung wieder in Lorsch, zunächst in der Rheinstraße, dann in der Schulstraße 18 bei Johanna Mainzer. Zuletzt lebte sie zwangsweise in der Kirchstraße 5, dem jüdischen Gemeindehaus.
Ihre Tochter Jenny Lichtenstein kam am 4. September 1940 aus Groß-Umstadt, in dem sie nach dem Tod des Vaters 1932 gelebt hatte. Die ledige Frau zog zu ihrer Mutter in die Kirchstraße 5. In die Wohnung der jüdischen Gemeinde wurden einige Lorscher Juden eingewiesen, die ihre eigenen Häuser verloren hatten, erklärt Thilo Figaj.
Jenny Lichtenstein wurde im März 1942 von ihrer Mutter getrennt und nach Piaski bei Lublin deportiert. Von ihr fehlt jede Spur.
Weitere Gedenksteine nicht ausgeschlossen
Mit den Steinen für die Familie Lichtenstein finden die Stolpersteinverlegungen in Lorsch einen vorläufigen Abschluss. Die insgesamt 55 Steine sind repräsentativ für die erloschene Lorscher jüdische Gemeinde.
Sie stehen allerdings nur für ihre Mitglieder, die zur Zeit des Nationalsozialismus in Lorsch wohnten, von hier flohen oder von hier deportiert wurden. Eine ebenso große Zahl Lorscher Juden, von Menschen, die vor allem hier geboren wurden oder lange hier lebten oder nach Lorsch heirateten, wurde von anderen Orten vertrieben oder deportiert, aus dem Inland oder aus den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten, erinnert Thilo Figaj. Für einige gibt es an diesen Orten Stolpersteine, für viele aber noch nicht.
„Es ist also durchaus möglich, dass es in Zukunft noch zusätzliche Stolpersteine in Lorsch gibt, wenn es für Lorscher Juden aus diesem Personenkreis anderenorts keine entsprechenden Initiativen gibt“, so Figaj. red
Betty Lichtenstein kam im September 1942 in das sogenannte Altersghetto nach Theresienstadt. Hier musste sie 1943 den Tod ihrer Schwester Hanna Marx, geborene Lorch, bezeugen, die mit ihrem Mann in Beerfelden gelebt hatte. Am 16. Mai 1944 wurde Betty Lichtenstein mit dem Transport EA 376 nach Auschwitz verbracht und dort ermordet.
Ihrem Sohn Jakob und seiner Familie gelang im Jahr 1939 die Flucht nach New York. Jakob war mit der vier Jahre älteren Melita, geborene Rosenthal (1898) aus Beerfelden verheiratet. Das Paar zog nach der Geburt einer ersten Tochter (Berta Helga, 1934) nach Lorsch, wo das zweite Kind (Eva Ellen) im Jahr 1936 zur Welt kam.
Die Familie wohnte in der Lindenstraße 8 zur Miete. Jakob Lichtenstein war Vertreter für Musikinstrumente und arbeitete für die bekannte Firma Hohner.
Während der Novemberpogrome 1938 wurde er, wie alle anderen männlichen Juden auch, in ein Konzentrationslager verschleppt. Er war vom 12. November bis 16. Dezember in Buchenwald. Nachdem er unterschrieben hatte, dass er mit seiner Familie auswandern würde, wurde er entlassen. Tragischerweise verstarb Jakob Lichtenstein bereits im Jahr 1946 in seiner Wahlheimat Amerika.
Berta Helga Kawesch lebte noch 2022 auf Long Island (New York). „Auf eine Kontaktaufnahme hat sie nie reagiert“, teilt Thilo Figaj mit. Ihre Schwester Eva Ellen Reinach besuchte Lorsch im Jahre 1981. Sie war Angestellte einer Regierungsbehörde in Washington und lebt seit ihrer Pensionierung in Maryland. „Sie war sehr bewegt, als im Zuge der Stolpersteinverlegung für Erna Rohrheimer (2021, Rheinstraße 4) ein Foto ihrer Familie auftauchte, das auch sie als Baby zeigt“, berichtet Figaj.
Erna Rohrheimer war die Cousine ihrer Mutter, von deren Existenz sie nichts wusste. Ernas Enkel hatte das Foto zur Identifizierung der Personen im Jahr 2021 mit nach Lorsch gebracht. Bis auf seine Großmutter kannte er die anderen Personen auch nicht.
Die Foto-Aufnahme von der Familie (siehe nebenstehendes Bild) entstand im Frühjahr 1936 in Lorsch in der Wohnung Lichtenstein in der Lindenstraße, so Figaj. In der hinteren Reihe stehen Jakob Lichtenstein (links) und Erna Rohrheimer sowie eine unbekannte Person. Sitzend abgebildet sind Jakob Lichtensteins Schwiegervater Loeb Rosenthal (1852) aus Beerfelden mit Berta Helga und Melita Lichtenstein mit Eva Ellen.
Die vier Stolpersteine für die Familie Jakob Lichtenstein werden am Donnerstag (9.) in der Lindenstraße um 17 Uhr verlegt. Anschließend begeben sich die Teilnehmer der Veranstaltung gemeinsam auf einen Spaziergang durch die Bahnhofstraße zum zweiten Verlegeort in der Kirchstraße. Dort werden Steine für Betty und Jenny Lichtenstein gesetzt, informiert Thilo Figaj. Unterstützt wird die Veranstaltung von der Lorscher Jugendfeuerwehr.
Gedenken an die Opfer der NS-Zeit
Der Abschluss der Veranstaltung ist, wie seit Jahren beim Gedenken an die Opfer der Pogrome der NS-Zeit gewohnt, um 18 Uhr an der jüdischen Gedenkstätte in der Schulstraße. Musikalisch untermalt werden die einzelnen Stationen der Gedenkveranstaltung vom Konzertgitarristen Lorik Pylla.
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