Lorsch. Wow! Mehr Kontrast geht kaum. Die Mai-Ausgabe der Lorscher Wundertüte namens Kultursalon war aber nicht nur ein bunter, sondern auch ein hochklassiger Mix aus Musik, Varieté, Comedy und Kabarett. Am Ende hatte das Publikum im Theater Sapperlot vor Lachen keine Luft mehr zur Verfügung. Schuld war ein Pfarrer.
Clajo Herrmann ist evangelischer Theologe und macht Kabarett. 2004 ist er aus dem Pfarrdienst ausgeschieden und seitdem als Vollzeitkleinkünstler unterwegs. Den Verlust der kirchlichen Altersversorgung muss er seither mit Ticketverkäufen kompensieren.
Man kennt ihn als Duo mit Hans-Joachim Greifenstein, der bis vor kurzem Schwanheimer Pfarrer war, sowie im Trio der „Hessischen Dreidabbischkeit“ und als Solist. Das „Erste Allgemeine Babenhäuser Pfarrer-Kabarett“ ist längst ein Klassiker. In seinen Alleingängen überzeugt Herrmann mit messerscharfen politischen Analysen und wortgewaltigen Geisteskaskaden. Wenige Künstler, die ihre Pointen so geschickt hinter syntaktischen Leerstellen verschanzen. Doch Hermanns Bühnenpräsenz ist niemals auf einen finalen Kracher hin ausgelegt, sondern ein Flächenbrand aus gesellschaftskritischen Botschaften und feurigen Kommentaren. Immer bissig, niemals verbissen.
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Der Ex-Seelsorger leidet hochgradig unterhaltsam an tumben Artgenossen und verrät, dass er angesichts mancher Vollpfosten heimlich ein Stoßgebet gen Himmel schickte mit den Worten: „Lieber Gott, beim nächsten Blitz genauer zielen“. In Lorsch sprach er über ausgewilderte Walldorfschüler, Kulturgeißel in Wagner-Opern und kosmetisch überladene Damen, die zwei Kilo zuviel auf die Waage bringen, weil sie noch nicht abgeschminkt sind. Und er beobachtet Leute, die mit einem Bündel Gras einen Mähroboter anlocken wollen. Im letzten Jahr er für seine Kunst mit dem Spirwes, dem Darmstädter Preis für Maulkunst und Lebensart ausgezeichnet.
Als Ouvertüre des Abends hatte Moderator Daniel Helfrich eine Newcomerin verpflichtet, die auf den Familiennamen Hieronymus hört, was dem einigermaßen kulturell umtriebigen Hessen schlagartige Assoziationen ins Hirn prescht: Ja, sie ist die Tochter von Sänger, Comedian und Radiomoderator Sven Hieronymus, geht damit aber nicht hausieren, sondern macht ihr eigenes Ding. Die 26-jährige Lea ist gerade mit ihrem ersten Soloprogramm „Lustig? Kann Jede*r!“ unterwegs.
Moderne Mittzwanzigerin
Auf der Bühne erzählt sie von alldem, was eine moderne Mittzwanzigerin umtreibt: erstes Date, optische Maßnahmen vor dem Ausgehen und den Eintritt in die Phase des Erwachsenwerdens, die sich unter anderem darin zeigt, dass im Grunde physisch wie seelisch gesunde Menschen plötzlich in Jack-Wolfskin-Jacken das Haus verlassen.
Man erfährt, dass politisch korrekte Konsumenten zwar nicht ganz auf das Hühnchen auf dem Teller verzichten wollen, aber durchaus Wert auf einen vertretbaren Tod der Tiere legen: „Drei Mal im Jahr nach Dubai, aber die Hühner müssen von hinten erschossen werden.“ Lea Hieronymus servierte ein unaufgeregtes Gesamtpaket zwischen höflich, rotzfrech und vulgär und bewies Coolness und Souveränität auch dann, wenn sie die Technik gegen sich hatte. Da gibt es gestandene Kollegen, die in solchen Momenten in Schweiß baden.
Höhepunkt war ihre hinreißende Parodie auf jene Gattung Dame, die aus jedem Liedchen eine emotionale Oper macht und in Glissandi badet. Meistens handelt es sich dabei um überschätzte und einmal zu oft gelobte Amateur-Sirenen, die sich mit Mariah Carey verwechseln. Da will man Lea Hieronymus nur zwei Dinge zurufen. Erstens: Endlich sagt´s mal jemand! Und zweitens: Sie können richtig singen! Sicher, das Comedyprogramm ist inhaltlich entwicklungsfähig, doch sollte man gerade bei aufkeimenden Blüten nicht mit dem Gießen knausern.
Nataliya Korchynska spielt Mandoline und stammt aus der Ukraine. Wegen des Kriegs lebt sie derzeit in Bensheim. Gemeinsam mit dem Gitarristen Jesse Flowers, der unter anderem an der Akademie für Tonkunst Darmstadt studiert hat, betörte sie das Lorscher Publikum mit klassischer Musik vom Feinsten. Neben einem Mandolinenkonzert von Vivaldi und zwei Stücken von Astor Piazzolla (darunter ein mitreißendes „Libertango“) erlebte man eine kleine Uraufführung: ein Werk von Bach in der Bearbeitung für Gitarre und Mandoline. Mit einem virtuosen „Capriccio Spagnuolo „ von Carlo Munier klang die erste Hälfte des Abends aus. Eine musikalische Sternstunde der Reihe.
Menschliche Beat-Box im Frack
Rhythmisch ging es nach der Pause weiter. Aber in einer völlig anderen Welt. Andi Steil bezeichnet sich als Entertainer, Ganzkörpertrommler, Rhythmusknacker und Vokalartist. Und er übertreibt nicht im Geringsten. Der Varietékünstler ist eine menschliche Beat-Box im Frack mit angeborenen „funny bones“ und einem unglaublichen komischen Talent. Eine wilde Performance über alle Genre-Grenzen hinweg und ein Gesamtkunstwerk aus Clownerie, Comedy und Musik. Sein hektisch-charmanter Auftritt bleibt genauso in Erinnerung wie der gesamte Abend. Manchmal passt eben alles.
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