Welterbe

Der Atzmann als "Mainzer Stellvertreter" in Lorsch

Von 
Eva Bambach
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Lorsch. Am 28. Oktober 2016 wurden auf dem Klostergelände aus einem Brunnen des 18. Jahrhunderts Fragmente geborgen, die sich als sensationeller Fund entpuppen sollten. Baudenkmalpflegerin Katarina Papajanni hatte schon zuvor an den Umrissen einiger im Brunnen vermauerter Steine Formen erkannt, die in die gotische Zeit wiesen. Die geborgenen Steine erwiesen sich tatsächlich als Fülle von – manchmal sehr kleinen – Bruchstücken mittelalterlicher Skulpturen, die inzwischen in Teilen rekonstruiert werden konnten.

Die spektakulärste Entdeckung war eine etwas unterlebensgroße, vollplastisch gearbeitete Figur im liturgischen Gewand eines Subdiakons, die ein Pult vor der Brust trägt – zu sehen in der aktuellen Ausstellung „Geschichte schöpfen“ in der Zentscheune, in der die Funde aus dem Brunnen erstmals der Öffentlichkeit präsentiert werden. Es handelt sich bei der qualitätvoll gearbeiteten Sandsteinskulptur um einen Atzmann, einen Vertreter einer seltenen Gruppe von Figuren, von denen bislang nur 23 Exemplare bekannt waren, davon vier nur als schriftliche Überlieferung. Was es mit diesem besonderen Typus auf sich hat und dass seine Entstehung an eine ganz spezifische politische Konstellation gebunden war, zeigte Anja Lempges bei einem Vortrag im Paul-Schnitzer-Saal „Der Atzmann – stummer Diener für lautes Lob“. Unter diesem Titel publizierte Anja Lempges vor zehn Jahren auch die Dissertation für ihre Promotion durch die Universität in Mainz, wo sie heute stellvertretende Direktorin des Dom- und Diözesanmuseums ist.

Realitätsnahe Gestaltung

Die frühesten Atzmänner stammen aus dem 13. Jahrhundert, dazu zählt auch das nun neu hinzugekommene Lorscher Exemplar, das um das Jahr 1266 datiert werden kann. Besonderheiten aller Atzmänner von Beginn an sind die vollplastische Ausarbeitung und die realitätsnahe Gestaltung. Während die Bauskulptur damals stets der Architektur untergeordnet und etwa durch Rahmungen in den Baukörper eingebunden war, um dem Vorwurf der Idolatrie – also dem Götzendienst – zu entgehen, sind die Atzmänner für eine freie, von allen Seiten sichtbare Aufstellung geschaffen. Damit und mit der am Leben orientierten Darstellung der Gewänder – für den Lorscher Atzmann lassen sich von der ursprünglichen Fassung noch ein frisches Grün für die Plinthe und ein festlich leuchtendes Rot für das Gewand feststellen – erlangten die Figuren einen für damalige Zeiten unerhörten Realitätsgrad.

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Die Funktion eines Atzmanns bestand in der Ablage des liturgischen Buchs für das Stundengebet, aus dem der Kantor den geistlichen Wechselgesang anstimmte – eine zentrale Aufgabe, deren hohe Bedeutung sich auch aus dem Umstand erschließen lässt, dass jeder sich vor dem Atzmann, also der steinernen Figur verbeugen musste. Der Atzmann, so legte die Referentin dar, hatte eine Gelenkfunktion zwischen himmlischer und irdischer Sphäre, war einerseits als Mensch mit überaus individuellen Zügen angelegt, repräsentierte aber andererseits das Göttliche. Dieser Aspekt decke sich auch mit der Genese des Begriffs Atzmann, der aus der Umgangssprache kam und ohne Übersetzung in den kirchlichen lateinischen Texten übernommen wurde. Ein Atzmann war zunächst nämlich im Volksglauben eine kleine Figur aus Wachs oder einer Alraunenwurzel, an der man stellvertretend für einen echten Menschen magische Handlungen vornehmen konnte. Auch die als liturgische Pultträger verwendeten Atzmänner waren offenbar solche Stellvertreter, die die Grenze zwischen Skulptur und Mensch verwischten.

Der wohl älteste, nur schriftlich überlieferte Atzmann war vermutlich ein Werk des Naumburger Meisters und seiner Werkstatt, sagte die Referentin. Aufgestellt mitten im Westchor des Mainzer Doms als zentrales Element des liturgischen Geschehens habe er mit seiner betont modernen Auffassung sicher viel Aufsehen erregt. Man könne davon ausgehen, dass der Mainzer Atzmann schnell weithin berühmt wurde.

Aufgrund dessen habe man die Figur auch als ein deutliches Zeichen des Machtanspruchs des Mainzer Erzbischofs einsetzen können: Alle Kirchen, in denen bislang ein Atzmann nachgewiesen wurde, standen auf die eine oder andere Weise in Abhängigkeit zum Erzbistum Mainz. So auch Lorsch: Kaiser Friedrich II. übertrug Siegfried III. von Eppstein, dem Erzbischof von Mainz und Erzkanzler des Heiligen Römischen Reiches, im Jahr 1232 das Reichskloster Lorsch. Die ansässigen Benediktiner wurden daraufhin zunächst von Zisterziensern, schon 1248 aber von Prämonstratensermönchen abgelöst. Auch in Lorsch, so Anja Lempges, dürfte der Atzmann damals in der Mitte des Chors gestanden haben, als „Mainzer Stellvertreter“. Die aufgefundene Figur sei ein wichtiges und seltenes Dokument aus der heute meist wenig geschätzten späten Zeit des Klosters, merkte der Leiter der Welterbestätte Lorsch Hermann Schefers im Rahmen der an den Vortrag anschließenden Fragerunde an.

Abgelöst durch Engel

Mit dem Ausgang des Mittelalters verloren die Atzmänner ihre Bedeutung und wurden von pulttragenden Engeln abgelöst. Während andere in der Vergangenheit aufgefundene Atzmänner an der Stelle ihrer ursprünglichen Aufstellung regelrecht begraben wurden, nachdem ihnen offenbar bewusst der Kopf abgeschlagen worden war, wurde der Lorscher Atzmann im 18. Jahrhundert schlicht zu Baumaterial für einen Brunnen. Das Kloster war damals jedoch schon lang aufgehoben worden, Sinn und Funktion des Atzmanns also vermutlich gar nicht mehr bekannt.

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