Lorsch. Skeptisch waren viele Lorscher, als vor zehn Jahren das Klostergelände umgestaltet wurde. Kann das gut gehen, wenn ihr „Kapellchen“ plötzlich eine andere Umgebung erhält?
Wenn das Welterbe-Areal von Hecken und einigen Bäumen befreit wird und weite Rasenflächen mit Vertiefungen angelegt werden, die einen Eindruck von der einstigen Größe des Klosters und seinen nicht mehr vorhandenen Gebäuden vermitteln sollen? Heute weiß man: Ja, es kann. Die Skepsis ist längst verflogen, die allermeisten Lorscher sind ausgesprochen angetan vom Ergebnis. Das Klostergelände, offen zugänglich für jeden und im Stadtzentrum gelegen, ist ein sehr einladender Ort geworden, an dem sich viele Menschen gern aufhalten.
Einer von ihnen ist Elmar Ullrich, der zudem schon früh erkannte, dass die Neugestaltung ein Gewinn sein wird. Im Klostergelände hat er einen Lieblingsplatz, den er häufig aufsucht. Es ist eine Ruhebank. Auf dem Klosterhügel befindet sie sich zwischen Bäumen – Ahorn und Linde – und in direkter Nähe zum mächtigen Kirchenfragment.
Ein Ort für Begegnung und Inspiration
Für den vor vielen Jahrzehnten zugezogenen Lorscher ist das grüne Areal in der Stadtmitte ein Ort zum Wohlfühlen, ein Ort der Begegnung und ein Ort der Inspiration. Für ihn sei es ein „auratischer Ort“, formuliert der frühere Oberstudiendirektor und langjährige Leiter des Studienseminars für das Lehramt an Gymnasien in Bensheim.
„Es ist das Herz von Lorsch, das hier schlägt“, sagt der gebürtige Franke, den das Klostergelände, dessen Geschichte und die Menschen, die hier lebten, faszinieren. Dabei hat Elmar Ullrich anfangs kaum etwas gewusst von seiner neuen, zweiten Heimat. Er hat nicht geahnt, dass er sich einmal mit großem Interesse in alte Handschriften aus der berühmten Bibliothek des Klosters versenken, gregorianischer Musik widmen und immer weiter eintauchen wird in die Geheimnisse rund um die rätselhafte Königshalle.
Vor genau 60 Jahren, 1963 besuchte er Lorsch zum ersten Mal, 1964, als Lorsch die Stadtrechte verliehen wurden, kam er wieder und blieb. Ullrich, mit der Lorscherin Ursula Ullrich, geborene Dewald verheiratet, mit der er zwei Kinder hat und sich über fünf Enkel freut, hat die Klosterstadt Jahr für Jahr besser kennengelernt und seine Entdeckerfreude hat immer wieder neue Anregungen erfahren. Auf vielfältige Weise hat er sich in Lorsch ehrenamtlich eingebracht und so mitgeholfen, für die bedeutende Historie bei vielen Menschen Interesse zu wecken.
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20 Jahre lang hat Elmar Ullrich, der Romanistik und Anglistik studierte, zum Beispiel Welterbe-Führungen unter anderem in französischer Sprache angeboten. Er eignete sich dabei selbst eine Menge Wissen an. Er hat Veranstaltungen im Klostergelände organisiert und moderiert, die viel Publikum anzogen: Lesungen und Konzerte etwa. Auch die Idee zur Lorscher Hymne, uraufgeführt 2014, zu der die Ullrichs den Text beigesteuert haben, ist auf dem Klosterareal entstanden. „Es ist ruhig – und trotzdem immer was los“, erklärt er, als eine Besuchergruppe außer Hörweite vorbeizieht, wieso die Bank sein Lieblingsplatz ist. Und zu jeder Tageszeit sei die Stimmung etwas anders.
Ullrich hat vor allem eine Reihe von Geschichten geschrieben, die in Lorsch spielen. Weil der Pädagoge nicht nur die manchmal dürren historischen Fakten überliefert, sondern seinen Darstellern Stimme, Gedanken und Gefühle verleiht, gelingt es ihm, die ferne Vergangenheit lebendig zu machen.
Setzt man sich mit Ullrichs Buch „Geschichten rund ums Kloster“ auf die Lieblingsbank des Autors, dann kann man Lorscher Persönlichkeiten von einst sehr nahe kommen. Was ging wohl in ihren Köpfen und Herzen vor, das in keiner Chronik festgehalten ist? Ullrich liefert spannende Ideen.
Er hat sich etwa mit dem Schicksal von Herzog Tassilo beschäftigt. Der bayerische Herrscher wurde von seinem Vetter Karl dem Großen zum Tode verurteilt, dann begnadigt – zu ewiger Klosterhaft in Lorsch. Ullrich schreibt auch von seiner ersten Begegnung mit dem berühmten „Lorscher Bienensegen“ aus dem 10. Jahrhundert und er hat eine Geschichte über seinen Namensvetter Ulricus, Propst des Lorscher Klosters verfasst.
Ein fantasievoller „Reiseführer“
Wer sich auf der Ruhebank niederlässt und sich in seinen fantasievollen „Reiseführer“ ins Mittelalter vertieft, oder anschließend, wie es Ullrich gerne macht, an der uralten Klostermauer entlangspaziert, wird von des Autors Begeisterung für die Klostergeschichte angesteckt.
Der Leser kann durch Ullrichs Augen zahlreiche Helden von damals vor sich sehen: Abt Udalrich, in dessen Wirkungszeit im elften Jahrhundert die Starkenburg gebaut wurde, den gelehrten Abt Richbod um das Jahr 800 und Abt Adelung. Letzter hat es Elmar Ullrich besonders angetan.
Ihm hat er jedenfalls ebenfalls ein eigenes Kapitel zugeeignet. Im Buch „Musikgeschichten“ erzählt der Autor, wie er einst auf diesen Freund des Gelehrten Einhard aufmerksam wurde, der 33 Jahre lang dem Kloster vorstand und damit die längste Regierungszeit in Lorsch vorweisen kann: eine Inschrift an einem Privathaus war es, die Ullrich inspirierte. Eine Lorscher Straße in Ullrichs Nachbarschaft ist gleichfalls nach dem Abt aus dem 9. Jahrhundert benannt: die Adelungstraße, zwischen Tassilo- und Udalrichstraße gelegen.
Der Tod kam erst drei Jahre später
Der 84-Jährige räumt ein, dass es dauerte, bis er richtig gepackt war. Beruf und Familie banden in der Rushhour des Lebens viel Zeit. Vor allem seit der Pensionierung aber studierte er ausführlich Lorscher Codices, stellte intensive Nachforschungen an – und deckte dabei auch manchen Fehler auf. Das Todesjahr Adelungs ist nämlich 837, und nicht 834, wie es in der Geschichte der Abtei zu lesen war. Diesen Abt, unter dem das Lorscher Kloster blühte, wollte Elmar Ullrich stärker ins Bewusstsein bringen.
Immer am 24. August zu Besuch
So mache er sich daher an einem 24. August, das ist der Todestag Adelungs, wieder einmal auf zum Klosterhügel. „Ich fragte mich, ob er einen Lieblingsplatz auf dem Klostergelände hat“, heißt es in Ullrichs Geschichte. Er versucht, sich in den Menschen Adelung hineinzuversetzen, stellt sich vor, wie dieser über die Klosterdüne schreitet, zu den Hügeln des Odenwalds schaut und über den Klosterfriedhof geht. Inspiriert vom Klostergelände berichtet Ullrich in seinem Buch, wie sich ihm bei der Beschäftigung mit Adelung ein passender Text und eine Melodie „einwurzelten“. Die Geschichte „Abt Adelung und der Lorscher Erzengel“ ist daraus entstanden.
Noch heute besucht Elmar Ullrich gern jedes Jahr am 24. August, diesem „Ritualtag“, das Klosterareal. Dass seine Lieblingsbank, umgeben von dicht gewachsenem Rasen, bereits besetzt ist, hat er natürlich öfter einmal erlebt. Das macht ihm nichts aus, er freut sich, wenn das Gelände ruhig und zugleich belebt ist.
Gegen Abend ist die Bank meist wieder frei. Und es ist ja auch nicht so, dass es für Elmar Ullrich nur einen einzigen Lieblingsplatz in Lorsch gäbe. Fragt man ihn nach seiner zweiten Wahl, dann nennt er den Birkengarten. Das Lorscher Freizeitgelände hat ihn zu einer Geschichte über Franz Schubert angeregt. „Impromptu“ heißt sie.
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