Einhausen. Am Ende von Einhausen, dort, wo fast keine Häuser, sondern nur noch Felder zu sehen sind und Pferde von Werner Schumachers Weidenhof friedlich grasen, dort steht unter einer großen Weide ein Wegkreuz. Das Rote Kreuz wird es im Volksmund genannt, erzählt Philipp Bohrer. Er hat diesen stillen und freien Ort mitten im Nirgendwo zu seinem Lieblingsplatz in Einhausen-Süd erkoren.
Kindheit mit fünf Geschwistern
Mit dem Kreuz unter der Weide ist er seit seiner Kindheit vertraut und kehrt immer wieder an diesen Platz zurück. Er hat ihn gewissermaßen durchs Leben begleitet. Nicht weit von hier steht sein Elternhaus. Der Vater war Fleischbeschauer von Beruf, kontrollierte in den Häusern, ob das frisch geschlachtete Fleisch sauber und genießbar war. Dazu hatte die Familie einen landwirtschaftlichen Nebenerwerb. Zum Bestand gehörten „vier große Kühe, fünf Ziegen, sieben bis acht Schweine plus Ferkel, fünf Katzen, 15 Hühner und zwei Schäferhunde“, zählt Bohrer auf. „Wir waren sechs Kinder zu Hause, die vier Buben haben in einem Zimmer geschlafen, das ganze Haus war voll“, erinnert er sich.
Um zu den Feldern der Familie zu gelangen, musste er als Kind am Wegkreuz vorbei. Gearbeitet wurde noch mit Rindern vor dem landwirtschaftlichen Gerät. Weil diese den Vater selbst am Husten erkannten und es dann kein Halten mehr für sie gab, sei hier eine Kuh mit ihm durchgegangen und habe ihn querfeldein mitgeschleift – wobei das Gespann auch ein Fahrrad überfuhr, wie er sich schmunzelnd erinnert.
Damals gehörte es zur Tradition, dass die Schüler der siebten und achten Volksschulklasse als Ministranten bei den Flurprozessionen dienten, die mehrmals im Jahr stattfanden. Aber nur einmal im Jahr führte eine Prozession bis zum Roten Kreuz hinaus: im Frühjahr zur Zeit der Aussaat, um für ein gutes Wachstum der Feldfrüchte und somit für eine reiche Ernte zu bitten.
So kam es, dass Philipp Bohrer in den Jahren 1961 und 1962 als 14- und 15-Jähriger zwar die erste Schulstunde frei hatte, dafür aber um 6.30 Uhr in der Kirche zu sein hatte, von wo sich nach einem kurzen Gottesdienst der Zug in Gang setzte. „Das waren lange Prozessionen, damals hatte Einhausen etwa 3500 Einwohner, und fast alle waren dabei“, erzählt Bohrer. Er selbst trug dabei das Weihrauchfass, das der Pfarrer am Roten Kreuz dann über die Felder schwenkte.
In den 70er- und 80er-Jahren, „als die Industrialisierung zunahm“, seien immer mehr Menschen anderweitig arbeiten gegangen und hätten den landwirtschaftlichen Haupt- oder Nebenerwerb aufgegeben. Damit hätten auch die Prozessionen nachgelassen und irgendwann gar nicht mehr stattgefunden, berichtet Philipp Bohrer.
Später, als er Bürgermeister der Gemeinde Einhausen war, habe er in seiner Funktion als Standesbeamter am Roten Kreuz die mit der Hundesportart Dogdance bekannt gewordene Anneke Freudenberger und ihren Mann getraut, die beide hoch zu Ross erschienen waren.
Mit dem Rad zum Einhäuser Bruch
Seit seiner Messdiener-Zeit ist für Philipp Bohrer das Rote Kreuz ein Ort der inneren Einkehr. Ein Ort, an den er, der so umtriebig und vielfältig engagiert ist, sich zurückzieht, wenn er die Stille sucht. Wenn er mit dem Fahrrad zum Einhäuser Bruch unterwegs ist, „lege ich hier eine Rast ein und denke über mich und die Umwelt nach“, sagt der 77-Jährige. Als er vor acht Jahren an Darmkrebs erkrankte, „habe ich während der Chemo hier viel Kraft geschöpft“, berichtet er. „Vielleicht ist es auch deshalb so gut verheilt.“
Weide wurde vom Blitz getroffen
Die Blätter der Weide beginnen zu rauschen, ein leichter Wind kommt auf. Die beiden Sitzgruppen aus Basalt habe es in seiner Kindheit und Jugend nicht gegeben, stellt Bohrer fest. Die Gesellschaft Edelweiß Heimatpflege, die von 1919 bis 2016 bestand, hat sie gestiftet. So wie auch die Weide nicht mehr die seiner Kindheit ist: Im Jahr 1990 hat sie ein Blitz getroffen. Werner Schumacher vom benachbarten Hof habe die verbliebenen Wurzeln entfernt, er als Bürgermeister habe eine junge Weide nachpflanzen lassen. „Die Leute haben sich aufgeregt: Die ist doch viel zu klein!“ Heute ist aus ihr ein mächtiger Baum geworden.
Bohrer dreht sich um, deutet hinüber Richtung Odenwald, dessen Silhouette vor dem Horizont liegt: „Dort liegt Bensheim, dort Heppenheim.“ Auch wenn sich manches verändert hat im Lauf der Zeit an seinem Lieblingsplatz: Die Weite, die Stille, der Wind werden bleiben.
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