Gadernheim. „Demokratie ist anstrengend und macht richtig Arbeit.“ Das weiß nicht nur der Bürgermeister einer 7000 Einwohner kleinen Flächengemeinde mit zwölf Ortsteilen. Davon können auch Bundes- und Europapolitiker ein Liedchen singen. Das Interesse und die Beteiligung an den Europawahlen – die nächsten sind am 9. Juni – sind traditionell mäßig. 2019 hatten nur 50,7 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Und das war die höchste Beteiligung seit über zwei Jahrzehnten.
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Gleichzeitig erlebt die deutsche Gesellschaft eine andauernde Belastungsprobe durch eine erstarkte Rechte und mangelndes Vertrauen in politische Führungsspitzen. Auf Sylt grölt eine junge Mittel- und Oberschicht dumpfe Nazi-Parolen. Bei einer Umfrage zum allgemeinen Vertrauen in die Regierung gaben im Herbst vergangenen Jahres rund 52 Prozent der Befragten in Deutschland an, der Berliner Koalition eher nicht zu vertrauen.
Vielfältige Beteiligung am Austausch über Demokratie
„Man erlebt ein hohes Maß an Unsicherheit. Unsere Demokratie steht auf dem Spiel“, betonte Lautertals Bürgermeister Andreas Heun bei einer Informations- und Diskussionsveranstaltung, zu der die Gemeinde mit der Mittelpunktschule nach Gadernheim eingeladen hatte. Rund 80 Gäste folgten dem Aufruf, sich an einem elementaren gesellschaftspolitischen Diskurs zu beteiligen und mit den verantwortlichen Akteuren ins Gespräch zu kommen. Das hat einigermaßen gut funktioniert – wenngleich die beiden Impulsvorträge doch mehr Raum eingenommen haben als der Dialog.
Dennoch kam es zu einem Austausch über die Aspekte von demokratischer Teilhabe im Kleinen und Großen, an dem sich außer örtlichen Mandatsträgern, Lehrern und Bürgern auch Jugendliche der Mittelpunktschule mit einem eigenen Beitrag beteiligt haben.
Bürgerinitiativen und Mediationsverfahren als Formen der Partizipation
Die Ausgangslage: Politische Probleme werden allgemein als (zu) komplex wahrgenommen. Parallel dazu scheint sich eine Sehnsucht nach einfachen Antworten zu zeigen. Die Zustimmung zu Spielarten direkter Demokratie wächst. Für die klassische repräsentative Demokratie heißt das, dass sie ihre Stärken – einen fairen Interessenausgleich und die Organisation von gesellschaftlichem Zusammenhalt – besser zur Geltung bringen und neue Wege der Beteiligung eröffnen muss. Im 21. Jahrhundert gehören dazu auch digitale Möglichkeiten der kollektiven Mitgestaltung: Graswurzel-Demokratie im Online-Modus?
Das funktioniert, sagt Michèle Knodt vom Institut für Politikwissenschaft an der TU Darmstadt. Ihr Lehrstuhl umfasst unter anderen die vergleichende Analyse politischer Systeme und den Bereich Integrationsforschung. In Gadernheim erläuterte sie Formen einer unkonventionellen (nicht-institutionalisierten) Partizipation. Dazu gehören unter anderem Bürgerinitiativen und Mediationsverfahren.
„Die Akzeptanz steigt, wenn das Angebot zur Zielgruppe passt“
In Darmstadt hat sie mit Kollegen aus der Forschung die Akzeptanz und politische Partizipation an einem Beispiel der Energietransformation untersucht. Ergebnis: auch über digitale Kanäle können Beteiligungsprozesse im kleinen Maßstab gelingen, wenn man die angepeilten Bevölkerungsgruppen erreicht – wenn also auch ein barrierefreier Zugang zu technischen Voraussetzungen gegeben ist.
„Die Akzeptanz steigt, wenn das Angebot zur Zielgruppe passt“, so die Wissenschaftlerin, die diesen Weg als eines von mehreren Instrumenten der Beteiligung darstellt, das weder repräsentativ noch politisch entscheidend ist. Das letzte Wort liege bei den parlamentarischen Gremien, die für ihre verantwortungsvolle Rolle gewählt seien. Auch, wenn man die Massen damit kaum erreichen könne: als Form der öffentlichen Reflexion seien solche niederschwelligen Prozesse ein gutes Medium der politischen Teilhabe, so Knodt im Gespräch mit Moderator Karl-Heinz Schlitt, der in Elmshausen das Regionallabor Bergstraße-Odenwald mitinitiiert hatte. Bei dem Projekt ging es auch um eine Mitwirkung aller Bevölkerungsgruppen an politisch-gesellschaftlichen Prozessen und um die Stärkung des ländlichen Raums.
Bedeutung der Parteien als verfassungsrelevante Organe
Klaus Müller, Sprecher der regionalen Arbeitsgruppe Südhessen des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, sagte: „Ein freies Wahlrecht genießt nur ein relativ kleiner Teil der Menschheit auf unserem Planeten“. Um Demokratie müsse immer neu gerungen werden. Wer sein Wahlrecht nicht nutze, diskreditiere gleichsam sein exklusives Recht auf politische Mitbestimmung, so Müller.
Mit Bezug auf das AfD-Treffen bei Berlin im Februar, wo für eine Abschaffung des Mehrparteiensystems plädiert worden war, betonte Müller die Bedeutung der Parteien als verfassungsrelevante Organe. Wer das fordere, stelle das Grundgesetz massiv in Frage. Die Parteien, ebenso wie eine freie, unabhängige Presse, wirken an der politischen Willensbildung mit und sind durch die Verfassung in ihrer Arbeit geschützt, so der Redner. Die Presse liege eben nicht in der Hand von Regierungen oder Parteien, sondern werde von privatwirtschaftlich geführten Medienunternehmen verantwortet, ergänzte der gelernte Journalist Karl-Heinz Schlitt.
Bedrohung des Friedens als zentrales Thema im Wahlkampf
Den Medien komme eine zentrale Rolle zu, etwa im Kampf gegen Fake News und Desinformation, unterstrich auch Michèle Knodt. Die digitale Revolution habe aber einen neuen Begriff von Öffentlichkeit hervorgebracht. Über soziale Medien und Blogs könne jeder meinungsbildend am Diskurs teilnehmen. Dies dürfe aber nicht mit einer professionellen Berichterstattung verwechselt werden. Journalisten hätten die Aufgabe, durch sorgfältige Recherche und wahrheitsgetreue Vermittlung den Bürger zu informieren und so den demokratischen Prozess zu unterstützen.
„Demokratie wird von jedem einzelnen von uns gestaltet. Sie muss aktiv gelebt werden“, betonte Klaus Müller die individuelle Verantwortung, zu der auch die Wahrnehmung des Wahlrechts gehöre. Am 9. Juni ist wieder Gelegenheit dazu. Michèle Knodt hält den Termin für einen der wichtigsten seit langem. Sie erkennt ein – wenngleich langsam – wachsendes Interesse an europapolitischen Themen. Der russische Angriff auf die Ukraine und der Krieg in Osteuropa sind dafür mitverantwortlich. Die Bedrohung des Friedens sei eines der zentralen Themen in diesem Wahlkampf. Und mit welcher Wahlbeteiligung rechnet die Demokratie-Forscherin? „50 Prozent plus.“ Also doch: alles wie gehabt?
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