So trafen sich auch in diesem Jahr Anfang Juli hier die Mitglieder von Stenografenvereinen aus dem gesamten südhessischen Raum, um an den Erfinder einer deutschen Kurzschrift zu erinnern, die der heute gebräuchlichen Deutschen Einheitskurzschrift zugrunde liegt. Dabei hat Franz Xaver Gabelsberger (1789-1849) selbst mit der hiesigen Region rein gar nichts zu tun und die Eiche wurde auch erst Jahrzehnte nach seinem Tod geweiht.
Gewachsen war sie auf dem Felsberg zunächst ganz von allein, bis sie im Jahr 1892 von einer ebenso sendungsbewussten wie festseligen Gesellschaft entdeckt und zum Symbol erkoren wurde. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass an diesem Ort, den wir heute wohl übereinstimmend als entlegen bezeichnen würden, einst rund 600 Personen zu Ehren Gabelsbergers zusammengekommen waren (selbst damals hatte man übrigens nur mit der Hälfte gerechnet).
Angereist war man von Mannheim, Weinheim oder Ludwigshafen, von Mainz, Frankfurt, Offenbach, Hanau und Aschaffenburg auf Einladung der Stenografenvereine aus Bensheim und Heppenheim. Man kam mit der Bahn und lief dann – zum Teil in Begleitung einer Musikkapelle – das jeweils letzte Stück aus allen Richtungen auf den Felsberg zu, der wesentlich weniger bewaldet war als heute und eine Sicht in alle Himmelsrichtungen bis zu den umgebenden Mittelgebirgen bot.
Es war damals also ein durchaus zentraler Ort. Vor allem aber war das Felsenmeer schon lang ein touristischer Anziehungspunkt. Schon Georg Büchner war der Felsberg im Jahr 1833 einen Aufstieg wert (auf einer Tagesetappe von Darmstadt nach Heppenheim). Fürstin Marie von Erbach-Schönberg schilderte einen Ausflug dorthin im Jahr 1864 von Schloss Heiligenberg aus in ihren Kindheitserinnerungen.
Für mehr und mehr Menschen war auch die Gastronomie auf dem Felsberg ein Ziel. So erbaute Justus Haberkorn, der Sohn des großherzoglichen Försters 1882 hier oben ein Hotel. Und just dieses Hotel Felsberg versorgte 1892 die unerwartet große Schar der Stenografen zu aller Zufriedenheit. Es wurde gegessen und unter Ausbringung von mancherlei Trinksprüchen auch getrunken – eine Facette, auf die nicht zuletzt der zeitgenössische Bericht in der Deutschen Stenographen-Zeitung viel Wert legte.
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Als spontaner Einfall wird dort auch die Idee der Weihe der Eiche beschrieben, als Analogie zu den allseits emporsprießenden Luther-, Bismarck- und Moltkeeichen. „Eine passende, in der unmittelbaren Nähe der Wirtschaft auf einem Rasenplatz stehende, war bald gefunden“, vermeldet der in launigem Ton gehaltene Bericht, der auch den Plan einer Geldsammlung „für die zu Propagandazwecken bestehende Gabelsberger-Stiftung“ vermeldet.
Denn es ging beileibe nicht um bloßes Amüsement. Seit Jahrzehnten rang man in Deutschland um die Ausprägung immer fortschrittlicher Kurzschriftsysteme, die letztlich alle auf dem von Gabelsberger seit etwa 1820 entwickelten beruhten, das erstmals Besonderheiten der deutschen Sprache berücksichtigte, nachdem zuvor englische und französische Systeme übernommen worden waren. Denn der aufkommende Parlamentarismus in Deutschland machte eine Kurzschrift zur Protokollierung der Redebeiträge notwendig.
Auch bei zwei für die Demokratiegeschichte zentralen Ereignissen des 19. Jahrhunderts wurde Gabelsbergers Kurzschrift eingesetzt: Bei der Protokollierung der Gerichtsverhandlungen, mit denen die Wortführer des Hambacher Festes 1832 von der Obrigkeit zur Rechenschaft gezogen werden sollten (aber freigesprochen wurden) und bei der ersten Nationalversammlung in der Paulskirche 1848. Gabelsbergers System eroberte die süddeutschen, habsburgischen und wettinischen Staaten und wurde das erfolgreichste Stenografiesystem in Deutschland und Österreich.
Zugleich erwuchs ein konkurrierendes System: Heinrich August Wilhelm Stolze entwickelte ein präziseres, aber sehr viel anspruchsvolleres und schwerer zu erlernendes System, das sich offenbar vor allem in Preußen, Norddeutschland und die Schweiz durchsetzte. Die Gabelsbergersche „Redezeichenkunst“ wurde dagegen als „leichtfüßiger“ empfunden – vielleicht ein Grund für die demonstrative Feierlaune, auf die die Gabelsberger-Vereine so viel Wert legten, auch mit Parolen wie dieser: „Im Schreiben flink, im Trinken brav, so lob ich mir den Stenograph!“.
Aus beiden Varianten entwickelten sich weitere und so gab es Anfang des 20. Jahrhunderts zehn große Kurzschrift-Schulen. Heiß umkämpft war die Frage, welches System offiziell zur Anwendung kommen sollte, noch in der Weimarer Republik. Nicht zuletzt spielten Rangeleien der einzelnen Länder zur Verteidigung ihrer jeweiligen Kurzschrift-Tradition eine Rolle, zahllose zum Teil geheime Sitzungen waren erforderlich, bis 1924 schließlich die Entscheidung für ein einheitliches System fiel.
Davon war man 1893 noch weit entfernt und mit der Errichtung eines Gedenksteins samt Plakette demonstrierten die selbst ernannten „Jünger der beflügelten Schreibkunst“ des Gabelsberger-Systems auf dem Felsberg ihren Anspruch. Genau ein Jahr nach der Weihe wurde auf einem Block vom Felsberg mit einer polierten Granitplatte folgende Inschrift für die Nachwelt installiert: „Gabelsberger-Eiche. 3. Juli 1892“. Und drumherum, nur für Eingeweihte, also für diejenigen lesbar, die der Gabelsberger-Kurzschrift mächtig sind: „Verband der Stenographen des Main-Rheingaus“ und: „Die Stenographie soll Gemeingut aller Gebildeten werden.“
Gefeiert wurde wieder im Hotel Haberkorn mit gutem „Stenographenwein“ aus Bensheim, gestiftet von dem Bensheimer Verein, der unter Leitung des Eisenbahn-Stationsvorstehers Häusser auch die künftige Pflege des Baums übernehmen sollte.
Wiederentdeckt wurde die Gabelsberger-Eiche durch Holger Zinke und sein Team von der Felsberg-Akademie. Sie stießen auf die in diesem Jahr genau 130-jährige Geschichte der Gabelsberger-Eiche und sind dabei, sie durch die landschaftsarchitektonischen Planungen rund um die erweiterten und restaurierten Gebäude auf dem Felsberg wieder zur Wahrnehmung zu bringen.
Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass der Spruch auf dem Gedenkstein mit seinem Bezug auf „alle Gebildeten“, der auf dem Gedenkstein der Eiche steht, so ausgezeichnet zum Sinn und Zweck der im Entstehen begriffenen Akademie passt, die ein Inspirationsort für Wissenschaftler, Künstler und Handwerker sein soll, die abseits des Alltags in mehrmonatigen Aufenthalten ihre Ideen weiterentwickeln wollen.
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