Heppenheim. Während die Zuschauer in den Marstall strömen, sitzt Katja Lange-Müller gelassen draußen auf der Treppe, raucht die ein oder andere Zigarette und beobachtet die Menschen, die zu ihrer Lesung aus ihrem Roman „Unser Ole“ kommen. Noch sei sie entspannt, lacht die Autorin. Drinnen studiert sie erst einmal in aller Ruhe das Jahresprogramm von Forum Kultur, dann kann es losgehen. Das erste Mal in diesem Jahr sei die Bahn pünktlich gewesen, unterstreicht Lange-Müller lachend diese bemerkenswerte Tatsache, bevor Tina Friedmann sie vorstellt.
1951 kommt die Autorin als Tochter einer führenden SED-Politikerin in Ost-Berlin zur Welt. Mit 16 Jahren wird sie wegen „unsozialistischen Verhaltens“ von der Schule verwiesen, macht eine Lehre als Schriftsetzerin. Sie arbeitet als Bildredakteurin, als Requisiteurin beim DDR-Fernsehen, als Hilfsschwester auf geschlossenen psychiatrischen Stationen. Später, 1979, studiert sie am Literaturinstitut in Leipzig, absolviert im Rahmen des Studiums einen Studienaufenthalt in der Mongolei. 1984 reiste sie nach West-Berlin aus.
Mitfühlend und schonungslos zugleich skizziert die Autorin ihre Protagonisten
Ihren Roman „Unser Ole“, der 2024 erschien, hat sie während Corona begonnen zu schreiben. Mit ihrer ganz eigenen Sprache skizziert Lange-Müller die Protagonistinnen ihres Romans. Ida, das alternde Model, das in die Altersarmut gerutscht ist und aufs Land zu Elvira zieht, die sich um ihren autistischen Enkel Ole kümmert. Nach einem tragischen Unfall erscheint auch Oles Mutter, die den 18-Jährigen einst im Alter von einem Jahr zurückgelassen hat. Alle drei Frauen sind verlorene Seelen, die zu einer merkwürdigen, fast skurrilen Schicksalsgemeinschaft werden. Zwei versagende Mütter mit einer schrecklichen gemeinsamen Vergangenheit. Drei Frauen, die von ihren Müttern nie geliebt wurden. Katja Lange-Müller selbst hat früh den Kontakt zu ihrer eigenen Mutter abgebrochen.
Mitfühlend und gleichzeitig schonungslos zugleich skizziert die Autorin ihre Protagonisten, schaut tief in deren Seelen, beleuchtet Abgründe und Verletzungen. Die Erzählweise ist aber auch tragisch-komisch. Der Lange-Müller so eigene Sarkasmus lässt die Zuhörer immer wieder schmunzeln, bis ihnen im nächsten Moment das Lachen buchstäblich im Halse stecken bleibt. Es ist auch ihre Art zu lesen, die das Publikum im Marstall fesselt, ihr so charakteristischer, lakonischer Ton, ihr Augenzwinkern.
Lange-Müller schreibt meist in der Nacht
Beim Zuhören entstehen Bilder im Kopf, fast sieht man die Figuren vor sich, schwankt zwischen Verachtung und Mitleid mit den Protagonistinnen. Und man wird neugierig auf das Buch.
Nach der Lesung erzählt die charismatische Schriftstellerin, wie akribisch sie im Vorfeld für den Roman recherchiert hat – etwa über die Lebensdauer von Brustimplantaten, die in der Geschichte immer wieder eine Rolle spielen, oder über die medizinischen Bedingungen, die eine Behinderung, wie Ole sie hat, hervorrufen. „Nicht, dass eines Tages ein Jurist im Publikum sitzt und sagt, das ist aber juristisch nicht korrekt – oder eine Geburtshelferin.“
Die Zuschauer erfahren, dass Lange-Müller meist in der Ruhe der Nacht schreibt. Sie erzählt fesselnd, wie ihre Figuren aus dem eigenen Erleben und Beobachten entstehen. Sie müsse nur aufpassen, dass sie nicht zu Karikaturen werden. Auch wenn es tragische Figuren seien: „Die Komik darf hier nicht zu kurz kommen. (…) Lachen ist ja auch etwas, womit man Tragik abwehrt.“ Ganz wichtig: „Ich muss den Schluss kennen, sonst kann ich nicht anfangen.“
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