Schulprojekt „Theaterkritik“ - Rezension zu „Die verlorene Ehre des (..)“ der Folkwang Universität der Künste

Spannendes Stück mit intensiven Szenen

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Das Stück wurde am 12.3.22 live im Parktheater gespielt. Wegen Erkrankung mussten die beiden männlichen Rollen für diese Aufführung kurzfristig umbesetzt werden. Die Rezension bezieht sich auf die parallel zur Aufführung gestreamte Videoaufzeichnung des S
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Die Inszenierung „Die verlorene Ehre des (..)“ war am Samstag im Rahmen der Woche junger Schauspieler im Parktheater zu sehen. © Zelinger

Bensheim. Ein namenloser junger Mann, der sich selbst anzeigt: ein junges Ensemble der Folkwang Universität der Künste zeigte im Rahmen der Woche junger Schauspieler Camilla Gerstners „Die verlorene Ehre des (..)“, ein erstaunliches Stück über sexuelle Gewalt in der Beziehung und den gesellschaftlichen Umgang mit betroffenen Männern und Frauen.

Ein junger Mann aus gutem Elternhaus (gespielt von Nils Karsten) zeigt sich bei der Polizei selbst an und erklärt, seine Freundin vergewaltigt zu haben. Besagte Freundin (Susann Ketley) enthält sich jedoch einer Aussage. Aufgrund fehlender sonstiger Beweise ist der zuständige Polizist (Joshua Hupfauer) ausschließlich auf die Aussagen des Mannes angewiesen, ausgehend von dem Grundsatz, dass alle Zeugen glaubwürdig sind, ihre Aussage jedoch auf Glaubhaftigkeit geprüft werden muss.

Gerstner malt ein Porträt einer Gesellschaft, die mit Schulderkenntnis nichts anfangen kann und will, während dem Zuschauer durch Nebenhandlungsstränge subtil ein ganzes Spektrum von Fällen von Gewalt in Partnerschaften nähergebracht wird. Die Pianistin Katrin Meier begleitet das Stück mit eigenen Kompositionen musikalisch.

Das Stück ist auf nüchterne Art in Kapitel unterteilt, welche öfter abrupt unterbrochen werden. Zwei als Erzählerinnen fungierende Schauspielerinnen (Lea Taake, Amelie Willberg) erklären dann im Stil eines Polizeiberichts immer wieder scheinbar objektiv den Handlungsverlauf. Beide blicken dabei direkt ins Publikum, wodurch sich der Zuschauer aktiv angesprochen fühlt. Dies unterbricht jedoch den eigentlichen Fluss der Handlung. Man wird aus der Illusion, man würde gerade reale Geschehnisse verfolgen und nicht als Zuschauer im Theater sitzen, immer wieder ruckartig herausgerissen.

Der Titel des Stücks, eine Anspielung auf Heinrich Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, lässt bereits erkennen, dass der Protagonist keinen Namen hat, da ein Name hier irrelevant ist. So symbolisiert (..) jegliche sexuell gewalttätigen Männer in einer Partnerschaft, jedoch mit einem bedeutsamen Unterschied: Er selbst erstattet Anzeige gegen sich, da er seine (nun) Ex-Freundin seinen eigenen ausführlichen Schilderungen zufolge vergewaltigt haben soll.

Musik im Theaterstück unterstreicht die Absudität

Seelenruhig und ehrlich erzählt er alle Einzelheiten. Er wirkt aufrichtig, nachdenklich. Im Hintergrund spielt die Pianistin eine sanfte Melodie. Diese musikalische Untermalung ist insofern sehr klug, als dass sie die Absurdität des Geschehens unterstreicht. Die Musik und der ruhige Tonfall des jungen Mannes bilden einen Kontrast zu dem Inhalt seiner Worte und kreieren eine gewisse Irritation. Desweiteren spricht (..) bei seinem Geständnis direkt ins Publikum. Somit ist das Publikum selbst die strafende Instanz. Die Umkehrung des Täter-/Opfer-Bilds sorgt für eine außerordentlich interessante Ausgangssituation und zwingt den Zuschauer im gleichen Atemzug zu einer Positionierung bezüglich des Umgangs mit dem Geständnis des jungen Mannes.

Gerstner vermeidet jegliche Form einer moralischen Beurteilung des Geschehens, weshalb das Publikum auch hier indirekt aufgefordert wird, sich eine eigene Meinung zu bilden. Der Gedanke, inspiriert von Bölls Stück, einige Elemente, wie beispielsweise die Rolle der Medien, zu übernehmen, ist an sich sehr gut, jedoch lässt sich eine Weiterentwicklung im Hinblick auf das, was Böll vor knapp 50 Jahren geschrieben hat, nur schwer erkennen.

Der Polizist versucht, den jungen Mann zu einem Widerrufen seines Geständnisses zu bringen, um ihn vor schwerwiegenden Konsequenzen zu bewahren, mehr aber, weil er sich selbst nicht eingestehen möchte, dass sexuelle Gewalt in der Beziehung eine Straftat ist. In seiner Beziehung hat es anscheinend einen ähnlichen Vorfall gegeben, was der Zuschauer aber nur indirekt durch ein Telefonat des Polizisten mit seiner Frau erfährt. Dass nur ein Bruchteil der von sexueller Gewalt in der Partnerschaft betroffenen Frauen die Vorfälle tatsächlich meldet, wird hier elegant verdeutlicht.

Glaubwürdigkeit des Opfers angezweifelt

Die Freundin des mutmaßlichen Vergewaltigers verweigert eine Aussage, was im späteren Handlungsverlauf sowohl in den sozialen Medien als auch in der regionalen Zeitung für Empörung sorgt. Es wird keinerlei Rücksicht auf ihren emotionalen Zustand genommen, die Diskussion um ihr Schweigen erscheint fast größer als jene um die eigentliche Vergewaltigung. Hierdurch wird sehr treffend das Bild einer Gesellschaft erschaffen, die sogar bei einem Geständnis des Täters immer noch die Glaubwürdigkeit des Opfers anzweifelt.

In der wohl intensivsten Szene lesen die beiden Erzählerinnen an Lautstärke und Tempo gewinnend Kommentare aus den sozialen Medien bezüglich des Vergewaltigungsfalls vor, dabei bewegen sie sich in einer geordneten Choreographie von der Bühnenmitte an den Rand hin, so dass letztendlich der Protagonist allein im Zentrum der Bühne steht. Diese Szene bleibt lange im Gedächtnis, da hier auf eindrucksvolle Weise gezeigt wird, zu welchen Schwierigkeiten die Konfrontation mit verschiedenen (unqualifizierten) Meinungen vor allem auf Social Media führen kann. Begleitet wird die Szene von immer schneller werdendem Klavierspiel, was phasenweise die Stimmen der Erzählerinnen übertönt. Die Atmosphäre ist unruhig, hektisch. Gerade als die Situation zu eskalieren droht, gibt es einen abrupten Stopp.

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Abschließend erscheint zum ersten Mal das Opfer der Vergewaltigung auf der Bühne. Die Bühne ist komplett dunkel, nur die junge Frau angeleuchtet, im Hintergrund stehen reglos die vier anderen Schauspieler. Die Frau bestätigt die Aussage ihres Exfreunds und kritisiert den Umgang der Medien sowohl mit dem Vorfall als auch mit ihr. Nun ist die Bühne schwarz, aus dem Off hört man eine Sprachnachricht des Polizisten an eine Frau, er entschuldigt sich und bietet an, nochmal über den Vorfall zu reden.

Gesellschaftliche Erwartungen zu Täter und Opfer

„Die verlorene Ehre des (..)“ fasziniert durch die spannende Idee der Umkehrung der Rollen, intensives Schauspiel, die Auseinandersetzung mit der Problematik sexueller Gewalt und mit den gesellschaftlichen Erwartungen bezüglich Täter-/Opfer-Rollen. Die nüchterne distanzierte Vortragsweise der Schauspieler wirkt jedoch teilweise unnahbar. Das Klischees vermeidende Stück stellt die wichtige Frage nach einem angemessenen gesellschaftlichen Umgang mit sexuellen Straftätern und Opfern sexueller Gewalt, jedoch bleibt diese Frage bis zum Schluss unbeantwortet.

Das Stück wurde am 12.3.22 live im Parktheater gespielt. Wegen Erkrankung mussten die beiden männlichen Rollen für diese Aufführung kurzfristig umbesetzt werden. Die Rezension bezieht sich auf die parallel zur Aufführung gestreamte Videoaufzeichnung des Stücks in der ursprünglichen Besetzung.

Von Elena Karas, AKG Bensheim

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