Hinter dem Schorschblick in Bensheim

Am Wegesrand: Wer zu Fuß geht, der kann viel erleben und nicht nur nette Mitmenschen zum Plausch treffen, sondern an allen Ecken auch (meist) steinerne Zeugen vergangener Zeiten. Genau besehen, ist das gesamte Bensheimer Stadtgebiet ein Freiluftmuseum!

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Die Stadtkirche Sankt Georg ist nicht nur einen Blick von außen wert, eine Besichtigung des monumentalen Kirchenbaus mit seinen hohen Säulen und den luftigen Proportionen lohnt auch von innen. © Thorsten Gutschalk

Bensheim. Manchmal sollte man aber nicht nur den Wegesrand im Blick haben, sondern auch einen Schritt ins Innere eines Gebäudes wagen. Zwar wird der seit dem Abriss des Hauses am Markt wieder vorhandene Schorschblick gern gerühmt, doch besichtigt man Kirchen meist lieber auf Reisen als daheim.

Dabei lohnt ein Besuch der Kirche Sankt Georg auch für Nicht- und Andersgläubige. Die Tür zur Kirche ist jeden Tag geöffnet, dazu geht man, vom Marktplatz kommend, links am Hauptportal vorbei und benutzt die Seitentür des nördlichen Seitenschiffs.

Unter der Woche wird man oft in den Genuss kommen, ganz allein einen für die Stadt Bensheim spektakulär großen umbauten Raum zu erleben. Geradezu physisch senkt sich eine große Ruhe übers Gemüt. Mit ihren hohen Säulen und den luftigen Proportionen vermittelt die Kirche ein angenehmes Raumgefühl, das dadurch verstärkt wird, dass der Innenraum nicht überladen mit Ausstattungsgegenständen wirkt – und das ist unter anderem auch ein Effekt der Zerstörung der Kirche am Ende des Zweiten Weltkriegs.

Wiederaufbau mit der selbst-bewussten Doppelturmfassade

Ein kurzer Blick auf die Baugeschichte: Das Kirchengebäude in seiner jetzigen Form ist ein Werk der 1950er Jahre, das in weiten Teilen das Vorbild der im Zweiten Weltkrieg zerstörten, 1826 bis 1830 unter Leitung des großherzoglich hessischen Baumeisters Georg Moller errichteten klassizistischen Kirche aufgreift, die eine Kirche des 12. oder 13. Jahrhunderts an gleicher Stelle ablöste.

Diese wurde bis auf ihren Westturm abgerissen. Obwohl dieser mittelalterliche Turm die Bomben fast unversehrt überstand, musste er beim Wiederaufbau in der Nachkriegszeit der breitbrüstigen und selbstbewussten Doppelturmfassade weichen, die den heute vielzitierten „Schorschblick“ ausmacht und auf einen nicht ausgeführten Plan Mollers zurückgeht.

Einige Stücke aus dem Vorgängerbau blieben erhalten

Doch blieben einige Ausstattungsstücke aus dem 1830 errichteten Vorgängerbau erhalten. Dazu gehört das große Weihwasserbecken an der Nordwand, das als eines von ursprünglich zwei solcher Becken von dem Darmstädter Hofbildhauer Johann Baptist Scholl d. Ä. nach Entwurf von Georg Moller angefertigt wurde. Die von Akanthusranken bestimmte Gestaltung hat ihr Vorbild in einem Taufstein in der Kirche von Heiligenfelde in Niedersachsen, der aus dem 13. Jahrhundert stammt.

Gerettet wurden auch zwei Gemälde im damals hoch im Kurs stehenden christlichen Stil der Nazarener. Den Seitenaltar im südlichen Kirchenschiff ziert ein 1832 gemaltes Bild der Madonna von Johann von Schraudolph, mit klaren Konturen und undramatischer Lichtwirkung strahlt es eine verinnerlichte Frömmigkeit aus.

Das trifft auch auf das Pendant im nördlichen Seitenschiff zu. Dort hängt ein Bild des Stadt- und Kirchenpatrons Sankt Georg, das vielleicht das einzige Bild des Malers Philipp Veit ist, das noch heute in einer Kirche und nicht in einer Kunstsammlung zu sehen ist. Dass Georg gerade einen Drachen besiegt hat, ist der Szene kaum anzusehen – wie beiläufig setzt der Heilige einen Fuß auf das besiegte Untier, das im Dunkeln bleibt und eigentlich kaum zu erkennen ist.

Philipp Veit war seit 1830 Direktor des Städelschen Instituts in Frankfurt. Etwa zeitgleich mit dem Bensheimer heiligen Georg arbeitete er unter anderem an dem berühmten Bild der beiden Marien am Grab in der Berliner Nationalgalerie. Die Gemälde für seine Kirche hatte der damalige Bensheimer Pfarrer regelrecht eingefordert, zu den Seitenaltären ließ er wissen, „dass wir keine anderen nehmen, als solche, in deren Mitte ein Gemälde ist“.

Das Weihwasserbecken nach einem Entwurf von Georg Moller stammt noch aus der 1826 bis 1830 errichteten klassizistischen Kirche. © Eva Bambach

Doch gibt es auch noch einige ältere Stücke, die wohl aus dem mittelalterlichen Kirchenbau stammen, der 1826 abgerissen worden war. Schon am Außenbau finden sich zwei Spolien dieser Kirche, eine Reliefplatte mit einer Löwendarstellung sowie ein Lamm mit Nimbus und Kreuzfahne.

Von der Innenausstattung ging mit dem Abriss der Kirche aber viel verloren. Man habe keinen geeigneten Ort zur Aufbewahrung der Kirchengeräte gefunden, hieß es, der Pfarrer stellte zwar seine privaten Räume zur Verfügung, war darüber jedoch sehr unglücklich, wie in Martin Hellriegels 1980 erschienenen Buch „Bau und Weihe der St.-Georgskirche zu Bensheim“ beschrieben wird.

Vieles aus der alten Kirche wurde nicht wieder verwendet, sondern neu angeschafft. Kurz vor der Einweihung der neuen Kirche wurden viele Stücke versteigert, nicht nur die Kirchenbänke, sondern auch rund 100 Bilder, Gemälde und Skulpturen.

Mit in die neue Kirche geschafft hat es eine hölzerne Figur der Maria als Himmelskönigin aus dem 16. Jahrhundert. Sie wird bis heute verehrt und ist stets von einem Kranz brennender Opferkerzen umgeben. Vergoldung und Fassung, also Bemalung, sind neu und auch das Zepter, das man der Figur in die Hand gedrückt hat, ist wie die Krone ganz offensichtlich erst im Zeitalter der Industrialisierung entstanden.

Am Bund geraten die Rockfalten aus der Fasson

Doch der Gesamteindruck bleibt mittelalterlich und man kann man noch viel von den Schwierigkeiten erkennen, die der – vielleicht lokale – Bildschnitzer mit der dreidimensionalen Gestaltung hatte. Insgesamt wirkt die Figur an vielen Stellen etwas ungelenk und platt und die Art, wie die Rockfalten am Bund aus der Fasson geraten hat etwas Anrührendes.

Umso ehrgeiziger bemühte sich der Schnitzer um den reichen Faltenwurf des Saums und er lässt den linken Fuß nach zeitgenössischem Stil keck unter dem Gewand hervorlugen.

Ein Jahrhundert später wurde das Epitaph des in Bensheim wirkenden Pfarrers Peter Gualteri geschaffen, der von 1636 bis zu seinem Tod 1658 in Bensheim tätig war und dessen Grabmal sich demgemäß auch schon in dem aus dem Mittelalter stammenden Kirchenbau befunden haben muss. Heute ist das steinerne Epitaph in der Südwand vermauert.

Maria als Himmelskönigin aus dem 16. Jahrhundert. © Eva Bambach

Auch das aktuelle Jahrhundert ist künstlerisch in der Kirche vertreten: Im südlichen Seitenschiff fällt eine große, bewegte Christusfigur ins Auge, die bei dem Künstler Karlheinz Oswald zu Ehren des 2012 verstorbenen Dekans Thomas Groß in Auftrag gegeben worden war.

Der 1958 in Worms geborene Bildhauer Karlheinz Oswald hatte zuvor schon auch ein Kruzifix für die Bensheimer Hospitalkirche geschaffen. Der Künstler ist für seine von tänzerischen Aspekten geprägten Werke im sakralen und im öffentlichen Raum international bekannt. Wer in der Stadtkirche umherstreift, entdeckt neben einigen weiteren Skulpturen und Bildern nicht zuletzt die Originale der beiden Heiligenfiguren von der Mittelbrücke. Und an einem verschlossenen Beichtstuhl ein Schild: „Hier befindet sich die heilige Bundeslade der eritreische orthodoxen Gemeinde Bergstraße“.

Ein Flyer informiert, dass nach den äthiopischen und eritreischen Überlieferungen die israelitische Bundeslade mit den Originalgesetzestafeln vom Berg Sinai nach Äthiopien gebracht worden sei und bis heute in Axum aufbewahrt werde. Eine Kopie der Gesetzestafeln befinde sich in jeder eritreisch orthodoxen Kirche.

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Da die eritreisch orthodoxe Gemeinde im Kreis kein eigenes Gotteshaus besitzt, sei die Pfarrei Sankt Georg gern bereit gewesen, die Bundeslade zu beherbergen.

Während die regelmäßigen Gottesdienste in Heppenheim stattfinden, wird die Georgskirche jedes Jahr Ende August zum Ort eines großen Festes zu Ehren des heiligen Teklehaimanot, eines der wichtigsten Heiligen der eritreisch orthodoxen Kirche.

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