Woche junger Schauspieler

„(Making) Woyzeck“ – ein Aufschrei gegen Diskriminierung

Stück des Theater Essen liefert alternative Version des Büchner-Dramas

Von 
Ronja Richter
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Bensheim. Der Mann neben mir dreht sich zu mir um und lächelt mich an. „Wie heißt du?“, fragt er mich. Ich überlege hektisch, ob ich mir einen Namen ausdenken soll. Ich fühle die vielen Blicke auf mir und entscheide mich für die Wahrheit. „Ronja.“ Er hält mir seine Hand hin. Sie ist voller Rasierschaum. „Die ist zu schmutzig, oder?“ Er reibt sie sich an seiner Hose sauber. Ich ergreife sie. „Wollen wir Freunde sein, Ronja?“ kommt seine Frage. „Warum nicht?“, ist meine überforderte Antwort. Das ist keine Konversation zwischen mir und einer anderen Person im Publikum, das ist eine Interaktion zwischen dem Hauptdarsteller und mir – während des Stückes.

Das Theater Essen präsentiert am 25.03. im Parktheater Bensheim mit „(Making) Woyzeck“ das einzige Stück der Woche junger Schauspielerinnen & Schauspieler, das auf einem klassischen Text basiert. Dennoch ist die Inszenierung alles andere als klassisch. Spätestens als der Hauptmann die Reclam-Ausgabe von Georg Büchners Woyzeck aus der Tasche zieht und dem Publikum eine Kurzfassung des Dramenfragments gibt, wird klar, dass dieser Abend uns eine alternative Version der Geschehnisse liefern wird. Es handelt sich definitiv um eine Inszenierung „nach Büchner“: Die Reihenfolge unterscheidet sich von der historisch kritischen Ausgabe, die ich aus dem Deutschunterricht kenne, ist aber trotzdem in sich schlüssig. An manchen Stellen wird der Text einer anderen Rolle zugeschrieben, manche Szenen passieren im Schnelldurchlauf oder finden sich gar nicht wieder.

Auch die Bühnensituation folgt nicht den gewöhnlichen Mustern. Im Vorhinein bin ich skeptisch gewesen, da sie das Publikum auf einen kleinen Anteil Interessierter beschränkt. Während der Aufführung wird mir jedoch zunehmend bewusst, dass die Bühne so und nicht anders sein muss: Die Zuschauer sitzen mit den Spielenden auf der Bühne. Die Sitze sind wie in einer Arena an allen vier Seiten um die Schauspielfläche herum angeordnet. Diese zentrale Fläche wird im Laufe des Stücks erst zur Projektions- und Tanzfläche und später sogar zu einem Boxring.

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Schon ganz zu Anfang wird die Leidenschaft des Regisseurs Caner Akdeniz für Hollywood-Filme deutlich: Die Schauspieler kommen wortlos hereingelaufen und setzen sich auf die Röhrenfernseher, die an allen Ecken und Seiten des Zuschauerraums stehen. Nach und nach kommen sie in die Mitte der Bühne gelaufen, während auf den Bildschirmen die Namen der Rollen erscheinen. Wie in dem Intro eines Spielfilmes werden ohne Worte die Dynamiken zwischen den Rollen dargestellt. Man sieht, wie die anderen Beteiligten auf Woyzeck (Eren Kavukoglu) einwirken, bis er allein in der Mitte steht. Der durch ihr Handeln auf ihn ausgeübte Druck wird verdeutlicht, indem er einen roten Ballon aufbläst, bis dieser zum Platzen kommt – eine symbolische Darstellung des inhaltlichen Themas des Stückes.

Wie von Büchner geschrieben, schauen wir Woyzeck anschließend dabei zu, wie er vom Hauptmann (Stefan Diekmann) aufgrund seiner einfachen Sprache und Hastigkeit ohne jede Empathie für dessen Lebensumstände diffamiert wird. Der Doktor (Sven Seeburg) nutzt „Subjekt Woyzeck“ seinerseits für medizinische Experimente aus und erfreut sich an dessen Symptomen von Wahnsinn, die er als für sich gewinnbringende Erkenntnisse ansieht.

Beide zahlen ihm für seine Arbeit einen Hungerlohn, den dieser in voller Gänze an Marie (Sümeyra Yilmaz) weitergibt, die er liebt. Trotz dieser Aufopferung kann er nicht mit der Verführung des Tambourmajors (Mansur Ajang) mithalten, der Marie mehr Aufmerksamkeit und teurere Geschenke bieten kann.

Von einer Szene aus Rocky motiviert, beginnt Woyzeck zu „There’s no easy way out“ sich im Boxkampf zu üben. Im „Wirtshaus“ fordert Marie mich und andere Zuschauer zum Tanzen auf und wir betreten die Tanzfläche. Auf einmal bricht mitten in unserer Menge eine Schlägerei zwischen Woyzeck und dem Tambourmajor aus, in der Woyzeck wieder der Unterlegene ist. Danach konfrontiert er Marie mit ihrem Betrug und wird fast von ihr erwürgt.

Als Hauptmann und Doktor Woyzeck in der nächsten Szene gemeinsam schikanieren, ihm dabei das Gesicht mit Schaum einsprühen und die Hand aufschlitzen, läuft bei Woyzeck das Fass über – mit anderen Worten: sein Ballon platzt. Anstatt des Femizids an Marie, den Büchner im Original vorsieht, inszeniert diese Theateradaption einen Racheakt Woyzecks, der den Spieß umdreht und seinen Unterdrückern die Kehle durchschneidet. Marie ihrerseits entledigt sich mithilfe der Rasierklinge des Tambourmajors. Zum Schluss laufen die beiden Arm in Arm von der Bühne. Statt eines tragischen Opfers gibt es hier einen „strahlenden Helden“.

Ist es richtig, in Woyzeck einen Helden zu sehen, obwohl er zum Mörder geworden ist? Bei mir als beteiligter Zuschauerin bleibt das Gefühl zurück, den Schikanen Woyzecks tatenlos zugesehen zu haben. Trage ich eine Mitschuld an der finalen Eskalation?

Diese besondere Intensität der Eindrücke erreicht das Ensemble durch die direkte Einbindung des Publikums und den immer wiederkehrenden Bezug auf aktuelle Formen struktureller Diskriminierung durch Rassismus, Transfeindlichkeit und Misogynie.

Trotz der nachdenklichen Botschaft wirkt das Stück nicht bedrückend. Alles wird mit einer unglaublichen Spielfreude auf die Bühne gebracht. Das Improvisationstalent der Schauspieler sorgt für eine Situationskomik, die jedem Abend etwas Einzigartiges und Persönliches verleiht.

Ronja Richter ist Schülerin am AKG Bensheim und hat am Schulprojekt „Theaterkritik“ teilgenommen.

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