Bensheim. „Wollen wir Freunde sein?“, fragt Woyzeck eine Zuschauerin. Er ist ganz in schwarz gekleidet, trägt schwere Boots und sieht mehr wie der Protagonist eines Rap-Musikvideos aus, als der irre Charakter von Georg Büchners gleichnamigem Dramenfragment. Es ist nur der erste Schritt Woyzecks, sich von gesellschaftlichen Zwängen zu befreien und eigenständig zu handeln, nur der erste Schritt, das Publikum zum Teil der Vorstellung zu machen.
Als letzte Aufführung im Rahmen der 29. Woche junger Schauspielerinnen und Schauspieler gastierte das Ensemble des Schauspiels Essen mit dem Stück „(Making) Woyzeck“ am 25. März 2024 im Parktheater Bensheim. Unter der Regie von Caner Akdeniz und Dramaturgie Maximilian Löwensteins entstand ein 95-minütiges Stück auf Grundlage des „Woyzeck“ von Georg Büchner, eines der einflussreichsten Dramen der deutschen Literatur.
In der Vergangenheit schon zahlreich interpretiert, ist es umso interessanter, dass „(Making) Woyzeck“ die Exposition aus der Originalvorlage gut verständlich darlegen und gleichzeitig eine ganz neue Richtung einzuschlagen vermag.
Das Theaterstück zeigt uns mittels simpel konstruierter und dennoch kontrastreicher Bühnenbilder, wie die Figur Woyzeck aus Unterdrückung und Erniedrigung geformt wird. Die Botschaft aus „Woyzeck“, wie der Mensch zu einem Produkt seiner gesellschaftlichen Umstände wird, wird so in der ersten Hälfte des Stücks deutlich gemacht.
Durch den besonderen Aufbau, bei dem das Publikum um eine kleine, weiß abgeklebte Bühnenfläche sitzt, hat jeder Zuschauer einen direkten Blick auf die Demütigung Woyzecks, als der Hauptmann sich vor aller Augen über ihn lustig macht. Platzende Luftballons und den tiefen Ausdruck, den Schauspieler Eren Kavukoglu seinem Woyzeck verleiht, zeigen seine Qual.
Und es wird deutlich: Opfer und Täter kommen aus unserer gesellschaftlichen Mitte, regelrecht aus der Mitte des Publikums. „(Making) Woyzeck“ übt an bestehenden gesellschaftlichen Problemen Kritik. Dass unsere Welt anders aussehen kann, spiegelt auch der diverse Cast wider. Anspielungen auf Alltagsrassismus verleihen dem Stück einen zeitgemäßen Blickwinkel und weisen auf die anhaltende Bedeutsamkeit des Stücks hin. Genau wie Büchner, der in seinem Drama Sprache als Darstellungsmittel sozialer Ausgrenzung wählt, arbeitet auch das Schauspiel Essen mit verschiedenen Sprachen, wie Deutsch, Englisch und Türkisch; aber auch ein jugendlicher Sprachstil findet mitunter Verwendung.
Neu ist, dass in dieser Inszenierung Woyzeck Marie, gespielt von Sümeyra Yilmaz, nicht tötet. Stattdessen sind es die wahren Unterdrücker, der Hauptmann (Stefan Diekmann) und der Doktor (Sven Seeburg), die am Boden liegend verbluten.
Auch Marie greift zur Tatwaffe. Wissend, dass sie es ist, die in der Originalvorlage mit dem Messer erstochen wird, weigert sie sich, es Woyzeck zurückzugeben und schneidet stattdessen die Kehle des Tambourmajors (Mansur Ajang) durch. Woyzeck und Marie nähern sich auf einer Zeitreise durch die Inszenierungsgeschichte von „Harry Potter“ bis „Titanic“ langsam wieder einander an und finden sich zum Schluss in einer Umarmung.
Auch wenn ein solches Ende, in der das Gute siegt oder zumindest das Schlechte nicht gewinnt, schön zu sehen ist, muss man sich trotzdem mit der Frage auseinandersetzen, was seine Aussage ist. Denn Georg Büchners Botschaft war es, die Ausweglosigkeit von Woyzecks Situation, seinen Determinismus, aufzuzeigen. Und nun soll er doch einen freien Willen haben?
Entscheidend ist, dass „(Making) Woyzeck“ es schafft, nicht bloß neue Fragen aufzuwerfen, sondern darüber hinaus den Zuschauer nicht nur anzusprechen, sondern aktiv einzubinden. So saßen die Schauspieler, wenn nicht gerade auf der Spielfläche, unter den Leuten im Publikum, es gab improvisierte Gespräche und eine gemeinsame Tanzeinlage – und alles, ohne aus der Rolle zu fallen. Durch den Mut zu solchen Aktionen hob sich dieser Abend mit gemeinschaftlicher Atmosphäre noch einmal von den vorherigen Darstellungen des Theaterfestivals ab.
Als die Darsteller schließlich unter Applaus den Raum verlassen, bleibt man als Zuschauer mit einer einst weißen, nun mit Rasierschaum, Luftballonfetzen und Popcornkrümeln beschmutzten Bühnenfläche und einer Menge Gedanken zurück.
Yonso Choi besucht das AKG Bensheim und hat am Schulprojekt „Theaterkritik“ teilgenommen.
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